von Marina Maisel
»Arme hoch – und wieder runter! Noch einmal, bitte! Einatmen – ausatmen!« Kleine, gymnastische Übungen, die den Körper und den Atem auf das Singen einstimmen sollen, stehen am Anfang einer jeden Chorprobe.
Am Abend vor dem Schabbat treffen sich jede Woche etwa zehn Männer, um neue Stücke einzustudieren, mit denen sie dann am Samstag früh die Liturgie in der Synagoge am Jakobsplatz besonders festlich gestalten. Schon gleich zu Beginn der Probe wird deutlich, wie harmonisch die Chormitglieder singen. Sie hören aufeinander. Ihre Stimmen verschmelzen zu einem homogenen Klang.
Und sie haben ganz offensichtlich Spaß daran. Es dauert nicht lang, da bekommt der Chor prominente Verstärkung. Rabbiner Steven Langnas gesellt sich unter die Sänger und singt begeistert mit, unter der Leitung des jungen David Rees. Wann immer er kann, besucht Rabbiner Langnas die Proben. Er ist Tenor und gesteht in der Pause, dass es immer sein Traum war, »einmal einen Chor in der Synagoge zu haben«. Das Ziel ist erreicht. Nicht ohne Stolz unterstreicht dabei der Rabbiner, dass »in keiner anderen jüdischen Gemeinde außer in der Pestalozzistraße in Berlin an jedem Schabbat ein eigener Chor singt«.
Der Synagogenchor der Münchner jüdischen Gemeinde wurde Ende 2003 in der Synagoge in der Reichenbachstraße durch das tatkräftige Engagement von Kantor Avishai Schmuel Levin und Yaron Shmuel Franz gegründet. Auf die Frage nach seiner Motivation, die Liturgie mit Chorbegleitung zu zelebrieren, zitiert Kantor Levin den berühmten Kantor Leib Glantz, der gesagt hat: »Ohne Chor ist ein Chasan nicht vollkommen.«
Leonid Volshanik und Hersh Vashevnikov gehören zu den Gründungsmitgliedern des Chores. Leonid ist leidenschaftlicher Amateur-Sänger, der ohne zu prahlen von sich behaupten darf, dass er alle Psalmen auswendig kann. Hersh ist selbst ehemaliger Chorleiter und bis jetzt mit der Chorqualität sehr zufrieden. Er bemerkt, dass der Chor mit der Zeit »gut wächst und ein reiches Repertoire hat«.
Tatsächlich gibt es für den Chor eine Fülle von Literatur. Denn eine Besonderheit des aschkenasischen Judentums ist es, dass es für jeden der Feiertage neben der traditionellen Musik und den entsprechenden Texten noch ganz spezielle Melodien gibt, die nur an diesem Feiertag erklingen. Das macht die jüdische Liturgie in Deutschland so besonders, und das weitet das Repertoire auch des Chores enorm aus.
Ansprechende und leicht eingängige Weisen, der klassische Stil der Kompositionen und die wohlklingenden männlichen Stimmen – all das erleichtert den Zugang zur jüdischen Liturgie.
Yaron Shmuel Franz findet es denn auch sehr wichtig, dass die Musik sogar nichtreligiöse Menschen zum Judentum bringt. »Es entwickelt sich ein gemeinsames Gefühl, eine gemeinsame Familie.«
Zu den jüngsten Chormitgliedern gehört der 18-jährige Miron Kof. Seit drei Jahren singt er im Chor. Sein besonderes Talent ist in der Gemeinde längst bekannt. Als beste jugendliche Männerstimme wurde Miron als Solist für die Jewrovison ausgewählt, einen Musikwettbewerb, der gerade in Dortmund stattgefunden hat. »Ei- gentlich habe ich erst im Synagogenchor singen gelernt«, gesteht Miron.
Der Geiger Aleksander Opanovskyy ist jeden Schabbat in der Synagoge. Doch erst vor einem Jahr hat er sich entschlossen, im Chor mitzusingen. Buma Vinokur ist noch keine zwei Jahre in Deutschland und hat gleich angefangen, im Chor zu singen und meint: »Eine bessere Integrationsmöglichkeit kann ich mir gar nicht vorstellen.«
Heute besteht der Chor aus Männern quer durch alle Generationen von 18 bis Mitte 70. Es gibt Schüler, Studenten, Berufstätige und Rentner. Sie haben verschiedene Muttersprachen und unterschiedliche musikalische Ausbildungen.
Einzige Frau im Ensemble ist Luisa Pertsovska, die den Chor bei den Proben am Klavier begleitet und Musikstücke arrangiert. Ihre musikalische Freundschaft mit dem Chor besteht seit der Gründung. Am Schabbat beobachtet die Pianistin von den Frauenplätzen aus »ihre Männer«. Leonid Volshanik scherzt: »Wir sehen an Luisas Augen, ob wir falsch oder richtig gesungen haben.«
Am Anfang leitete Kantor Levin den Chor selbst. Inzwischen hat David Rees die Leitung übernommen. Nach seinem Musik- und Philologiestudium in Amerika kam Rees im Sommer 2001 nach München. »Ich besuchte regelmäßig die Synagoge«, erzählt er. »Als nach einiger Zeit bekannt wurde, dass ich Musik studiert habe, wurde ich gefragt, ob ich nicht mit dem Chor arbeiten wolle. Es war eine Herausforderung, aber ich wollte es versuchen.« Er arbeitete sich in die Besonderheiten der jüdischen Musik ein und fing an, mit den Sängern zu proben. Dann musste er für einige Zeit den Chor verlassen, denn er reiste nach Israel, um Hebräisch zu lernen und in Archiven für seine Magisterarbeit zu forschen. In dieser Zeit vertrat ihn Barry Mehler aus Amsterdam.
Vor eineinhalb Jahren kam David Rees nach München zurück, um bei Michael Brenner am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte seine Magisterarbeit über den jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem zu schreiben. Seit über einem Jahr leitet Rees den Chor wieder. »Er ist eine Bereicherung für die Gemeinde. Er ist fantastisch!«, lobt Rabbiner Steven Langnas den jungen Mann.
Virtuos führt der 27-jährige Chorleiter seine Sänger. Doch bei aller Freude, die ihm diese Arbeit macht, verliert er nie das Ziel aus den Augen: »Wir haben noch viel zu tun. Wir haben noch längst nicht alle Lieder und Melodien gelernt.«
Gleichwohl hat »Schma Kaulenu«, wie sich der Chor nennt, und was »Höre unsere Stimme« bedeutet, schon große und viel beachtete Auftritte hinter sich – zum Beispiel beim »Tag der Begegnung« nach der Synagogeneröffnung im vergangenen November. Auch an das gelungene Kol Nidre an Erew Jom Kipur erinnern sich viele noch tief bewegt. »Es war gar nicht schlecht!«, meint der Chorleiter.
Auch IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch schätzt den Chor sehr. Als besonders wichtiges Zeichen der Anerkennung bewahren die Sänger den Dankesbrief auf, den sie von ihr bekommen haben.
Dennoch bleiben Wünsche offen. Gerne würde sich der Chor am Aufbau eines Austauschprogramms beteiligen, um sich zu zeigen und andere Chöre zu erleben. Für David Rees wäre erstrebenswert, München zu einem Zentrum für synagogale Musik zu machen, um den Austausch mit anderen Synagogenchören zu fördern. Ein Wunsch steht jedoch bei allen Beteiligten ganz oben auf der Liste: Der Chor möge wachsen und noch mehr jüdische Menschen anziehen, die am Singen Spaß haben.