von Ulrike Gondorf
Der Maler Amedeo Modigliani (1884-1920) stammte aus einer alteingesessenen jüdischen Familie in Livorno. Doch ein jüdischer Maler wie etwa sein Zeitgenosse Marc Chagall war er nicht. Wo der Weißrusse immer wieder das Schtetlleben seiner Kindheit oder biblische Themen zum Sujet machte, malte Modigliani lieber Frauen. Die Bundeskunst-halle in Bonn zeigt jetzt in einer großen Retrospektive – der ersten in Deutschland seit fast 20 Jahren – Gemälde, aber auch wenig bekannte Zeichnungen und einige der äußerst raren Skulpturen des Künstlers.
Lang, lang und schlank ist der Hals, auf dem das schmale Oval eines Frauengesichts schwebt. Mit wenigen markanten Linien ist es erfasst. Eine einzige beschreibt die Augenbrauen und die Nase, der Mund ist klein und leuchtend rot, die Augen sind mandelförmig – und leer. Nicht auf ein Bild der Ausstellung trifft diese Beschreibung zu, sondern auf eine ganze Reihe. Die Frauenporträts von Modigliani sind Ikonen der Moderne: nicht nur wegen der Verehrung, die ihnen entgegengebracht werden, sondern auch, weil der Künstler in der frontalen Darstellung, im vorherrschenden Format des Brustbilds und in der geheimnisvollen, entrückten Aura der Dargestellten tatsächlich viele Merkmale dieses Andachtsbildes aufgriff.
Modigliani – der Name lässt einen Chip einrasten im Bildgedächtnis kunstinteressierter Menschen. Dass aber vieles von dem, was man zu kennen und wissen glaubt, nur auf einem Vorurteil beruht, kann man jetzt in der Bonner Ausstellung erleben. Die zeigt nämlich auch, wie Modigliani erst zu Modigliani wurde.
Die ersten Bilder der Retrospektive sind Arbeiten des 16-jährigen Amedeo, dem seine vermögenden Eltern Privatunterricht erteilen lassen und der unterwegs im Süden Italiens seine Begeisterung für die Kunst entdeckt. Spätimpressionistische Lichtspiele huschen über zartfarbige Frauenköpfe. Eigentlich sollten diese Reisen seine Gesundheit festigen, denn schon als Junge leidet Modigliani an der Tuberkulose, der er mit 35 Jahren zum Opfer fallen wird.
Nach dem Studium in Venedig kommt er 1906 nach Paris. Die französische Hauptstadt ist auch die Kapitale der Avantgarde. Modigliani lernt Picasso kennen, setzt sich mit den verschiedensten aktuellen Kunstströmungen auseinander, ohne einer Gruppe anzugehören.
Wie Modigliani den Durchbruch zur eigenen Form und zum persönlichen Ausdruck schafft, lässt die Ausstellung, die von Chris-toph Vitali und Susanne Kleine gemeinsam kuratiert wurde, den Betrachter direkt nacherleben. Es ist die aufregendste Station des Rundgangs. 1910 beschäftigt sich Modigliani geradezu obsessiv mit Karyatiden, weiblichen Figuren aus der Tradition der Bauplas-tik. Immer weiter abstrahiert er die Umrisse des Körpers, nimmt ihm das Volumen, reduziert ihn auf die Linie. Die Beschäftigung mit afrikanischer Kunst bringt das Element des Maskenhaften, Archetypischen in die Zeichnungen, und so findet Modigliani zu seinem Stil, der radikale Vereinfachung mit großer formaler Ausgewogenheit verbindet. Zehn Jahre bleiben ihm da noch für sein reifes Werk, das auch in dieser Schau dominiert ist von Frauenportraits.
Hier hält die Ausstellung in der Begegnung mit den Originalen, von denen viele aus Privatbesitz stammen und unverglast gezeigt werden, eine zweite Überraschung bereit. Modigliani hat sich ganz verschiedener malerischer Handschriften bedient. So leicht es ist, den Künstler in der Erinnerung auf einen Prototyp zu reduzieren, so reich, lebendig und individuell zeigt sich das Werk im Original. Bei einem Künstler, der so massenhaft in Reproduktionen verbreitet ist wie Modigliani, schon ein guter Grund, nach Bonn zu reisen. Und sich einzulassen auf den ganz eigenen Reiz dieser Bilder, deren großen Erfolg beim Publikum der Maler nicht mehr erleben konnte. Erst nach seinem frühen Tod 1920 begann ihr Siegeszug. Denn in den rätselhaften, verletzlichen, unnahbar, traumverloren und der Zeit enthoben in sich hineinblickenden Wesen suchten die Menschen Halt in einer Epoche, die in traumatischen Kriegserfahrungen und einer radikal beschleunigten Modernisierung aus den Fugen geriet. Maß und Ausgewogenheit –und dahinter doch ein Geheimnis: Vielleicht begründet das auch Modiglianis anhaltende Beliebtheit bis heute.
Bundeskunsthalle Bonn bis 30. August www.bundeskunsthalle.de