Als Abraham Geiger 1835 seine »Wissenschaftliche Zeitschrift für Jüdische Theologie« herausbrachte, schrieb er in einem Aufsatz: »Die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät (ist) ein dringendes Be-
dürfnis unserer Zeit.« Die herkömmliche Ausbildung in Form eines »kritiklosen Talmudstudiums« sei für die neue Zeit einer aufkeimenden Moderne in Wissenschaft und Technik nicht ausreichend. Im Rabbinatsstudium hätten angehende Rabbiner keine Zeit, sich den Wissenschaften zu wid-
men und an den Universitäten werde angehenden Rabbinern nichts geboten, was sie für ihre praktische Arbeit brauchen.
Meilenstein Erst seit zehn Jahren gibt es nun die Möglichkeit, einen akademischen Studiengang mit der rabbinischen Berufsausbildung zu kombinieren. 1999 wurde das Abraham Geiger Kolleg von den Rabbinern Walter Jacob und Walter Homolka ins Leben gerufen. Es war dies das erste Rabbi-
nerseminar in Zentraleuropa seit der Schoa und auch das erste Institut, das die Rabbinatsausbildung an einer Universität ermöglicht, wie es der Namensgeber vor 174 Jahren forderte. Unterstützt wird es seit einigen Jahren vom Zentralrat der Juden in Deutschland.
Rektor des Kollegs ist seit Anbeginn Walter Homolka. Seit 2008 bildet es am Jewish Institute of Cantorial Arts auch Kantoren aus. Mit Roly Zylbersztein, Ri-
chard Newman und Gabor Lengyel werden an diesem Donnerstag zum zweiten Mal Rabbiner und mit Juval Porat erstmals ein Kantor in Deutschland ordiniert. Alle vier Kandidaten haben längere Zeit in Israel gelebt und sich in Kibbuzzim und Gemeinden engagiert. Sie erlangten bereits vor dem Rabbinatsstudium akademische Grade und verfügten über ein umfangreiches Wissen über das Judentum sowie praktische Erfahrungen. »Trotzdem gab es immer noch Lücken. Der eine musste das Predigen lernen, der andere Kenntnisse in den Schriften nachholen«, sagt Hartmut Bomhoff, Sprecher des Geiger-Kollegs.
Austausch Das Geiger-Kolleg verbindet nun rabbinische Studien mit dem Lehrplan des Institutes für Jüdische Studien an der Universität Potsdam, das mit derzeit 360 Studenten, 27 Dozenten und sieben Professoren zu einem der größten Europas gehört. Dabei bereichern Rabbiner wie Schüler das Potsdamer Institut. »Weil man dort nicht nur über, sondern auch mit Juden sprechen kann und wir die Nischen im Lehrplan füllen, etwa im Bereich der Talmud-Studien«, sagt Bomhoff.
Das Rabbinatsstudium ist in Module unterteilt. Im Bachelor-Bereich umfassen sie unter anderem Religionsgeschichte, Hebräische Bibel, Jüdische Philosophie, Theologie, Literatur und Kultur, Antisemi-
tismusforschung, Modernes Hebräisch, Kunst oder Soziologie. Im Master-Studiengang kommen jüdische Geschichte von der Antike bis zur Neuzeit, hebräische Literatur, jüdische Kultur im Internationalen Kontext, jüdisches Recht und Liturgie oder Aramäisch hinzu. In der Modulgruppe »V« gestalten die Studenten ein Tutorium in Handschriftenkunde, Katalogisierung oder Datenbankpflege. Sie werden in der wissenschaftlichen Praxis unterwiesen und auf die Magisterarbeit vorbereitet. Ein Jahr verbringen die Studenten des Kollegs zudem am Hebrew Union College in Israel.
Die Rabbiner des Abraham-Geiger-Kollegs unterrichten die Schüler vor allem in praktischen Fragen des rabbinischen Alltags. Hohe Feiertage, Liturgie sowie Gestaltung der Gottesdienste. Unterrichtsinhalte sind Seelsorge, das rabbinische Gespräch, Psychologie oder auch die praktische Frage »outreach« – wie erreicht der Rabbiner die Menschen? Die Betreuung von Gemeinden zieht sich durch die gesamte Ausbildungszeit. Jeder Kandidat besucht vier Gemeinden in Deutschland sowie eine in den USA, England oder Südafrika. Auf diese Weise können sie ihren potenziellen Rabbiner »schon mal kennenlernen«.
Umdenken Grundsätzlich habe sich hier in den letzten Jahren vieles verändert. Zum einen wachse die Zahl der Gemeinden mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen ständig. Zum anderen legen »die Gemeinden Wert auf eine Nachvollziehbarkeit der Ausbildung«, sagt Bomhoff. »Wir brauchen mehr Kantoren und Religionslehrer in den Gemeinden«, konstatiert auch Nathan Kal-
manowicz, Kultusdezernent des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Im vergangenen Herbst besuchten die Schüler gemeinsam mit katholischen Se-
minaristen Lublin, in Istanbul trafen sie mit Vertretern religiöser Minderheiten in der Türkei wie Armeniern und griechisch-orthodoxen Christen zusammen. »Für uns ist das interreligiöse Gespräch sehr wichtig«, sagt Bomhoff. Auch der Islam sei ein großes Thema der Ausbildung. Seit viele Studenten aus den ehemaligen Ländern der Sowjetunion stammen, bietet das Geiger-Kolleg seinen derzeit 22 Schülern zu-
dem Sommercamps in Russland oder der Ukraine an.
International Es bewerben sich aber auch Studenten aus den USA und Israel am Potsdamer Kolleg, »weil das liberale Judentum hier seinen Ursprung hatte und man sich sozusagen am historischen Ort befindet. Wir sind vielleicht so etwas wie eine Schnittstelle zwischen Ost- und Westeuropa«, sagt Bomhoff. Alle Studenten haben schließlich die Möglichkeit, eines der Stipendien zu erhalten, die monatlich 750 Euro umfassen und vom Zentralrat der Juden sowie der Memorial Foundation for Jewish Culture in den USA und einigen Privatleuten ausgelobt werden. Als Beitrag zum interreligiösen Dialog vergeben auch die Evangelische Landeskirche Bayerns und der Arbeitskreis des evangelisch-jüdischen Dialogs eigene Stipendien.
Die sechs Rabbiner des Kollegs pflegen einen guten Kontakt zu ihren Schülern und laden sie am Freitagabend nach Hause ein. »Ich habe mich schon wie in einer Familie gefühlt«, schwärmt Roly Zylbersztein. »Es gibt«, sagt der Sprecher des Kollegs, »eigentlich nur wenige dropouts«: Studenten, die abbrechen. Das ist bisher nur einer Studentin aus Weißrussland gelungen. »Weil sie einen Rabbiner vom Leo-Baeck-Institut heiratete. Da wurde sie nicht Rabbinerin sondern Rebbezin.«