von Rabbiner Jonathan Magonet
Im Toraabschnitt dieser Woche erfahren wir, wie die Kinder Israel nach der Niederlassung in ihrem Land die ersten Früchte des Bodens zum Priester bringen und Gott weihen sollen. Genauer heißt es an dieser Stelle, die Israeliten sollten den Ersten »vor den Priester bringen, der in jenen Tagen sein wird« (5. Buch Moses, 26, 3). Genau dieselbe Wendung finden wir im Kapitel 17 – und zwar in eher rechtlicher Bedeutung mit Bezug auf den »Schofet«, den »Richter, der in jenen Tagen sein wird«.
Die Rabbiner haben darauf hingewiesen, daß man sich schwerlich an jemanden wenden kann, der gar nicht mehr am Leben ist. Aus dieser scheinbar überflüssigen Wendung leiteten sie einen weitreichenden Grundsatz ab: Dem Richter, der zur gegenwärtigen Zeit richtet, soll für seine Entscheidungen dieselbe Autorität zukommen wie den Richtern der Vergangenheit.
Andererseits müssen Richter in jedem funktionierenden Rechtssystem über Autorität und Vertrauen verfügen – worauf also wollten die Gelehrten hinaus? Einen Hinweis finden wir in einer geringen terminologischen Verschiebung. Die Rabbiner sprachen nämlich nicht, wie die Bibel, von Richtern, sondern von »Dayan« – einem Vorsitzenden eines rabbinischen Gerichtes. Möglicherweise ging es ihnen also um ihre eigene Macht und Autorität als Führungspersönlichkeiten der jüdischen Welt. Ihre Autorität lag in jenem Judentum, das sie nach der Zerstörung Jerusalems, des Tempels und des Königtums entwickelt hatten, in jenem Judentum, das die neuen Gegebenheiten des Lebens im Exil berücksichtigen sollte. Ihre Macht als Richter über alle Aspekte des jüdischen Lebens war indes sehr real. Sie verfügten über eine ganze Reihe von Sanktionsmöglichkeiten, um das jüdische Gesetz innerhalb einer in sich geschlossenen jüdischen Welt durchzusetzen.
Als Bürger westlicher Gesellschaften ist unsere Lage heute wiederum eine radikal andere. Man wendet sich in Fragen des Zivil- und Strafrechts nicht mehr an die Rabbiner. Die Zuständigkeit für diese Bereiche liegt beim Staat. Den Rabbinern bleibt in der Auslegung des jüdischen Gesetzes in seinem Bezug auf die heutige Welt ein gewisser Grad von Autorität, wenn sich auch die verschiedenen jüdisch-religiösen Bewegungen in diesen Fragen nicht einig sind. Die Macht der Rabbiner zur Durchsetzung des jüdischen Gesetzes erstreckt sich praktisch nur noch auf diejenigen, die sich ihr freiwillig unterwerfen. Zudem ist die weit überwiegende Mehrheit der Juden an diesen Fragen nur noch am Rande und allenfalls dort interessiert, wo ihr eigenes Leben ganz direkt betroffen ist. Dabei geht es um Statusangelegenheiten: Wer darf überhaupt als Jude gelten, und wer darf folglich wen heiraten? Es ist kein Zufall, daß die unterschiedlichen Bewegungen sich gerade über solche Fragen streiten.
Dieser Machtverlust und damit die Neubewertung der Rolle des Rabbiners ist nicht ohne Folgen für die Beziehung zwischen den Rabbinern und der außerreligiösen Führung der jüdischen Gemeinden. Außerreligiöse Führungspersönlichkeiten, die ihre Aufgabe in der Leitung und Unterstützung der jüdischen Gemeinde sehen, be-sitzen eben nicht die Autorität und das Ansehen der Rabbiner. In der rabbinischen Autorität wird noch immer eine vage »spiri- tuelle« Führerschaft anerkannt. Der Rabbiner ist Lehrer oder Pastor, oder er ist derjenige, der strikt nach dem jüdischen Gesetz lebt und dies gleichsam stellvertretend für die Angehörigen der jüdischen Gemeinde tut. In dieser Hinsicht steht der Rabbiner dem Priester der biblischen Welt näher als dem Richter. Daher wird vom Rabbiner oftmals erwartet, daß er sich aus den praktischen Fragen der Gemeinde heraushält, so als verfüge er oder sie nicht über die erforderliche »Weltgewandtheit«, um in dieser Hinsicht eigene Auffassungen vertreten zu können. Der Rabbiner selbst widersetzt sich vielleicht dieser Beschränkung seiner Rolle, insbesondere, wenn sich herausstellt, daß die außerreligiöse Gemeindeführung in den »weltlichen Angelegenheiten« doch nicht so kompetent ist, wie sie glaubt.
Für die Vermittlung der Rollen von Rabbinern und außerreligiöser Führung gibt es zahlreiche Modelle. Wo Gemeinden demokratisch geführt werden und die Führungspersönlichkeiten regelmäßig wechseln, kann der Rabbiner für eine Art Kon- tinuität sorgen und langfristig einen be- trächtlichen Einfluß auf Wertsetzung und Richtungsentscheidungen der Gemeinschaft ausüben. Während die außerreligiöse Führung über ganz bestimmte Befugnisse verfügt, die sie im Idealfall zum allge- meinen Besten einsetzt, kann es zu Zeiten sehr wohl der Rabbiner sein, der unzufrieden ist und sich gezwungen sieht, zu neuen Entscheidungen zu drängen. Bei Konflikten innerhalb von Gemeinden werden die Ursachen gern in der Persönlichkeit der Beteiligten gesucht, und dementsprechend wird die Schuld zugewiesen. Nur zu oft ist es aber die Struktur selbst, die zum Bruch zwischenmenschlicher Beziehungen führt, wenn sie keine vereinbarte und regelmäßig überprüfte Abgrenzung von Befugnissen und Zuständigkeiten vorsieht.
Bei den Kindern außerreligiöser Führungspersönlichkeiten wurde eine bemerkenswerte Neigung beobachtet: Sie möchten oft Rabbiner werden, während die Kin- der von Rabbinern oft in die Laienführung der Gemeinden streben, vielleicht, weil jede Seite denkt, daß die wirkliche Macht bei der jeweils anderen Seite liegt.
Die Fragen der Macht und Autorität, auf die die Rabbiner hingewiesen haben, stehen bis heute im Raum. Ohne die frühere Integration von jüdischem Gesetz und sämtlichen Aspekten jüdischen Lebens besteht kein eindeutiges Gefühl mehr dafür, wo die Autorität eigentlich liegt und wie mit Veränderungen umzugehen ist. Manche bedauern den Verlust der rabbinischen Macht, aber die meisten Juden würden sich trotz des Bekenntnisses zur Führungsrolle der Rabbiner ohne die heutige Entscheidungsfreiheit im Alltagsleben doch reichlich unwohl fühlen. Die einzige Macht, die den Rabbinern bleibt, ist vielleicht die Macht, anderen bei der Gestaltung eines jüdischen Lebens zu helfen und ihnen zu vermitteln, wie das Judentum ihr Leben bereichern kann.
Ki Tawo: 5. Buch Moses 26,1 bis 29,8