von Wolf Scheller
Der siebzehnjährige Arthur Kellerlicht, der sich während der Schoa in einem katholischen Internat im französischen Savoyen versteckt hält, berauscht sich bei der Vorbereitung auf das Abitur an der Lektüre der Bekenntnisse von Jean-Jacques Rousseau: »Was ihn entzückte, war ›vor einer befehlerischen Herrscherin zu knien, ihr zu gehorchen, sie um Verzeihung bitten zu müssen, waren für mich sehr liebliche Wollust, und umso mehr meine lebhafte Phantasie mir das Blut aufwallte, umso mehr sah ich wie ein erstarrter Liebender aus.’«
Lesern von Georges-Arthur Goldschmidts Büchern Die Absonderung und Die Aussetzung wird der Erzählhintergrund geläufig sein. Die Befreiung ist der dritte Teil der autobiografisch gefärbten Trilogie des bekannten Autors und Übersetzers. Die Erregungen, von denen die Rede ist, entwickeln sich aus dem Zeithorizont einer Schülerbiografie, die mit der Verschickung des zehnjährigen Arthur und seines älteren Bruders nach Italien 1938 und dann nach Frankreich einsetzt. Hier sorgt eine Kusine der Mutter dafür, dass ein katholisches Internat die jüdischen Jungen aus Deutschland aufnimmt. Arthur Kellerlicht, dessen Nachname nicht von ungefähr das Abgründige und Abseitige seiner Existenz erfasst, macht als schlechter Schüler und Bettnässer Bekanntschaft mit der rigorosen Erziehungs- und Prügelpraxis katholischer Internate. Die psychischen Verkrampfungen des Jungen, die auf Verdrängung bedachte Sexualmoral, haben, wie man aus anderen Texten Goldschmidts weiß, mit unaufgelösten frühkindlichen Mutterkonflikten zu tun. Aber es kommt in diesen Erfahrungen Arthur Kellerlichts Weiteres hinzu. Das ist die Entdeckung der eigenen Körperlichkeit, die zugleich die Körperlichkeit der deutschen Sprache ist, seiner Muttersprache, vor der er sich schützen muss.
Im zweiten Band der Trilogie war Arthur von der Internatsköchin an die Polizei verraten worden. Die Direktorin der Schule versteckte den Jungen monatelang bei einem Bauern bis zur titelgebenden Befreiung, die nicht nur das Ende der deutschen Besatzung meint, sondern auch die innere Loslösung einer jugendlichen Seele von einem quälenden Versteckspiel. Arthur sucht die Sicherheit des Internats wieder, hofft und findet die Gewohnheit von Schuld und Strafe. Er entdeckt die Wollust, der die als Bestrafung empfundene Ausstoßung vorangeht. Und er weiß am Ende, dass er auch in Frankreich nie dazugehören wird. Goldschmidt zitiert dazu in einem anderen seiner Bücher Sigmund Freud: »Jeder Jude weiß von Kindheit an, dass sein Status nur auf Widerruf besteht, dass man ihn früher oder später jagen, verhöhnen, schlagen oder sogar töten kann.«
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georges-arthur goldschmidt:
die befreiung
Amman, Zürich, 220 S., 19,90 €