von Katharina Born
An ihrem Platz in den halbkreisförmigen Sitzreihen beugt sich Simone Veil tief über ihre Notizen. Eine Zigarette in der rechten Hand, verbirgt sie mit der Linken einen Moment lang ihr Gesicht. Der Lärm ei-
ner der heftigsten Debatten, die der Saal im Pariser Palais Bourbon je gesehen hat, ebbt nicht ab. Und doch wirkt die so aufrechte Frau nun plötzlich ganz für sich.
Es ist halb vier Uhr morgens am 29. November 1974. Das Parlament verabschiedet in einer drei Tage und zwei Nächte dauernden Sitzung vor laufenden Kameras das Gesetz zur Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Gerade hat ein Abgeordneter die Abtreibungspraktik mit der Tätigkeit von Nazi-Ärzten verglichen. Wolle die »Madame la Ministre« verantworten, dass »die Embryonen wie anderswo in Krematorien verbrannt und in den Abfall geworfen« würden? Noch 30 Jahre später mutmaßt man in Frankreich darüber, ob Simone Veil, die als eine der wenigen Überlebenden von Auschwitz den Geruch der Krematorien nie vergessen hat, in diesem Moment weinen musste, oder ob sie, wie sie sagt, sich nur aus Müdigkeit die Augen rieb. »Es war ein Lärm und Geschimpfe, unwürdig und undemokratisch, ich wurde schrecklich beleidigt. Aber schließlich kam das Gesetz durch. Nur das ist wichtig.«
Ihre brillant vorgebrachte Gesetzesinitiative sollte vor allem die in allen Schichten illegal und oft dilettantisch durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche verhindern, durch die es jährlich zu Hunderten von Todesfällen kam. Indem sie offenlegte, worüber niemand sprach, indem sie den Frauen mit der Freigabe der Verhütungsmittel eine verantwortungsvolle Familienplanung erst ermöglichte, erschütterte Simone Veil das traditionelle Wertesystem Frankreichs in seinen Grundfesten.
»Ich glaube, die Menschen schätzen, dass ich offen meine Meinung sage. Das ist keine Strategie, das ist mein Temperament. Schon als kleines Mädchen habe ich meinem Vater widersprochen.«
Simone Veil ist inzwischen 80 Jahre alt geworden, am 13. Juli dieses Jahres feierte sie Geburtstag. Im unvermeidlichen Zweiteiler der französischen Bourgeoisie, der längst auch zu ihrem Markenzeichen wurde, tritt sie in ihr nüchtern eingerichtetes Büro in der Rue de Rome im Pariser
8. Arrondissement. Ihr Haar ist heller geworden, ihre Züge erscheinen weicher als auf den Fotos der vergangenen Jahre. Aber die Augen der Politikerin wirken flink und lebhaft in einem Gesicht, das noch immer auf Würde bedacht zu sein scheint.
»Ihr Blick kommt von weit her«, schrieb einmal der Schriftsteller Philippe Sollers über sie. »Man weiß, von welchem namenlosen Schrecken, und er geht weiter als der gegenwärtige Augenblick.« Als Überlebende des Holocaust und eine der bekanntesten Politikerinnen Europas repräsentiert Simone Veil auf besondere Weise die der offiziellen Version abgewandte Seite der französischen Nachkriegsgeschichte. Als erste Frau in wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Ämtern, als Feministin, streitbare Intellektuelle und als große Demokratin verteidigte sie ihr Leben lang Gerechtigkeit, Kultur und die Werte eines Kontinents, der die Barbarei überlebt hat.
Simone Jacob, am 13. Juli 1927 in Nizza als jüngste Tochter des Architekten André Jacob und seiner Frau Yvonne geboren, wächst republikanisch-laizistisch und strikt antireligiös auf. Als eine Cousine sie eines Tages mit in eine Synagoge nimmt, droht der Vater, er werde sie nie wieder einladen. Erst Anfang 1944 wird Simone vom Lyzeum vertrieben. Im März wird erst sie, dann die ganze Familie von der Gestapo verhaftet. Gemeinsam mit ihrer Mutter und der ältesten Schwester wird Simone nach Auschwitz deportiert. Auf den Hinweis eines Häftlings gibt sie als Alter 18 statt ihrer 16 Jahre an. Die Kinder in ihrem Transport werden sofort vergast. Im Januar 1945, die Rote Armee ist nur noch 60 Kilometer vom Lager entfernt, werden die drei Frauen mit Tausenden anderer Häftlinge auf den Todesmarsch nach Westen geschickt. Wieder wird Simone gerettet, als Mithäftlinge einen Sterbenden daran hindern, sich an ihr festzuklammern. In Bergen-Belsen angekommen, stirbt drei Wochen vor der Befreiung des Lagers, vom Typhus geschwächt und ohne Lebenswillen, die Mutter. »Es war ein Ausweg für sie«, wird Veil später sagen, eine Formel, die nicht annähernd den Schmerz verdeckt, den sie noch immer über den Verlust empfindet. Immer wieder gefragt, was von Auschwitz geblieben sei, antwortet sie: »Die Lust am Leben und das Wissen darum, was wirklich wichtig ist.«
Vergeblich wartete sie bei ihrer Rückkehr nach Paris auf Nachricht vom Vater und vom Bruder Jean, die in den Lagern verschollen blieben. Von den Erlebnissen und Schwierigkeiten der zurückgekehrten Juden wollte 1945 niemand etwas wissen. Das von Krieg, Besatzung, Kollaboration und Säuberungen geschundene Frankreich drohte zu zerfallen. Charles de Gaulle suchte es mit der Legende einer »Befreiung aus eigener Kraft« zu einigen. Den jüdischen Opfern, die weder zum Mythos des Widerstands noch zum Schicksal der politisch Verfolgten gehörten, wurde vorgeworfen, passiv geblieben zu sein. Ihr Überleben schien verdächtig. Noch in den späten 80er-Jahren glaubt Veil sich während eines wissenschaftlichen Kolloquiums verteidigen zu müssen: »Ich bin nicht hier, weil ich mich für die SS prostituiert habe.«
Die 18-jährige Simone stürzte sich in ein ehrgeiziges Jurastudium, gleichzeitig besuchte sie die berühmte Pariser Science Po, wo sie Antoine Veil kennenlernte. Kurz nach ihrer Hochzeit 1946 wurden die beiden ersten Söhne geboren, 1954 ein dritter. Bereits 1950 kehrte Veil nach Deutschland zurück, wo ihr Mann in Wiesbaden eine Diplomatenlaufbahn begann. Sie führten das behütete, vom Alltag der Deutschen abgeschottete Leben des diplomatischen Diensts. Nur einmal fand Antoine Veil seine Frau bei einem Empfang im Konsulat weinend in einer Ecke vor. Ein Funktionär des französischen Außenminis-
teriums hatte, als er ihr aus dem Mantel half, die tätowierte Häftlingsnummer an ihrem Unterarm entdeckt und gewitzelt, das sei wohl ihre Garderobennummer.
Erst ab den späten 70er-Jahren wurde die Verfolgung der Juden in Frankreich mit der Arbeit Serge Klarsfelds überhaupt thematisiert. Die Rolle Frankreichs in der Schoa erkannte offiziell erst Jacques Chi-rac in seiner Rede im Juli 1995 zum Jahrestag der Rafle du Vélodrome d’Hiver, der Massenverhaftungen der Pariser Juden, an – für Simone Veil eine der wichtigsten Staatshandlungen des Präsidenten. Auf ihre Initiative hin wurde im Januar dieses Jahres im Nationaldenkmal Panthéon eine Gedenktafel angebracht – für die von der Gedenkstätte Yad Vashem zu »Gerechten« erklärten Franzosen, die verfolgten Juden geholfen hatten.
Veil selbst hat sich nie gescheut, offen über ihre Erlebnisse in den Lagern zu sprechen. Noch immer fühlt sie sich dem Judentum in erster Linie durch die Erinnerung verbunden. Sie war die erste Präsidentin der Stiftung Mémorial de la Shoah, schreibt unermüdlich Vorworte, hält Reden und unterstützt Projekte zum Thema. »Die Erinnerung«, sagt sie, »ist die Voraussetzung für eine Versöhnung.«
Mehrfach gab es Gerüchte, Veil könnte Frankreichs erste Präsidentin werden. Doch nachdem sie 1976 von der Kandidatur um das prestigereiche Bürgermeisteramt von Paris abgehalten wurde, sprach der damalige Innenminister aus, was trotz ihrer großen Beliebtheit sicher viele dachten: »Simone als Bürgermeisterin? Unmöglich ... Paris gibt sich keiner Frau hin und noch weniger einer Israelitin.« Heute zuckt Simone Veil nur mit den Schultern. Zumindest der Fakt, dass sie Jüdin ist, ha-
be sie nie behindert.
Während ihrer ehrgeizigen Laufbahn im Justizministerium, aber vor allem in der konservativen französischen Magistratur musste Simone Veil sich bereits zu Anfang ihrer Karriere gegen große Widerstände durchsetzen. Schließlich berief Giscard d’Estaing sie 1974 zur Gesundheitsministerin, um die Situation der Frauen zu verbessern. »Es ging natürlich darum, dass die Frauen damals auf dem Arbeitsmarkt gebraucht wurden«, sagt Veil illusionslos. Schon zu Beginn ihrer Amtszeit als Gesundheitsministerin bestand sie darauf, dass selbst ihre Leibgarde weiblich war. »Noch immer sind nicht genug Frauen in den wichtigen Positionen«, sagt sie. »Wir haben da in Frankreich viel aufzuholen.«
Als sie mit 29 Jahren 1956 ihre Rechtsanwaltszulassung bekam, war Simone Veil bereits Mutter von drei Söhnen. Ihr Mann, inzwischen ein wohlsituierter Finanzinspektor, wollte nicht, dass seine Frau arbeitet, schon gar nicht als Rechtsanwältin. In einem hart umkämpften Kompromiss schlug sie die höhere Beamtenlaufbahn ein. Auch ihre Vorliebe, im Saint-Germain-des-Prés der 68er-Jahre mit Freunden den Kühlschrank zu plündern und die ganze Nacht zu reden, gab sie ihrem Mann zuliebe auf. Als sie schließlich in die Politik ging, verlangte er nur noch, sie müsse ihn auf dem Laufenden halten. »Irgendwann hat er sich daran gewöhnt, was ich tue«, sagt Veil mit einem Lächeln. Mehrfach verzichtete Veil aber auch auf Posten oder Projekte, um mehr Zeit mit ihren Kindern und Enkelkindern zu verbringen. »Die Familie ist das Wichtigste. Und es ist wichtig, sich Freiheiten zu bewahren.«
Die Europapolitik, von den meisten ihrer Kollegen noch immer als undankbar empfunden, begreift Simone Veil als Höhepunkt ihrer Karriere. Dass ausgerechnet eine ehemalige Insassin der Vernichtungslager 1979 zur Präsidentin des Europaparlaments werden konnte, der ersten, von den Menschen in ihren Ländern frei und direkt gewählten Volksvertretung eines einigen Europas, ist für sie ein starkes Symbol.
Auch ihre parteipolitische Unabhängigkeit hält Veil für eine ihrer Stärken. So nah sie der französischen Rechten steht und obwohl sie im Europaparlament 1979 für die Zentrumspartei der Giscardisten antrat, hat sie es doch immer wieder verstanden, gerade in der Frauenpolitik, bei Umwelt- oder Integrationsthemen mit Allianzen nach Links zu verblüffen. Bereits in den 70er-Jahren erstaunte sie die Öffentlichkeit mit der Aussage, wenn einer ihrer Söhne ihr gestehen würde, mit einem Mann zusammenzuleben, würde sie seinen Freund zum Essen einladen.
»La mère Veil« wird sie in einer Mischung aus misogynem Spott und distanznehmendem Respekt oft genannt. Dabei beruht Veils Kraft weniger auf einer oft unterstellten Mütterlichkeit als vielmehr auf einer von ihr selbst als »grundlegend weiblich« beschriebenen Einsicht.
Veil will nicht aufhören, sich einzumischen. Während des Referendums vor zwei Jahren setzte sie sich trotz des Neutralitätsgebots, das für sie als Mitglied des Verfassungsrats galt, für ein »Ja« zur Europäischen Verfassung ein und löste damit eine schwere Polemik aus. Als das Mandat im März dieses Jahres auslief, unterstützte sie Nicolas Sarkozy im Präsidentschaftswahlkampf. Damit habe sie sich selbst verraten, heulten einige ihrer Fans auf, die Sarkozy für einen Rechtspopulisten halten. »Man gewöhnt sich an solche Angriffe«, sagt Veil. Vor zwei Jahren habe sogar ein Rabbiner aus New York ihr gefaxt, er fände es unerträglich, dass ausgerechnet sie, die mit dem Abtreibungsgesetz mehr Babys auf dem Gewissen habe als die Nazis, zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz sprechen werde.
Zu ihrem 80. Geburtstag erreichte Simone Veil kein offizieller Glückwunsch von französischer Seite. Dafür gratulierten die von ihr sehr geschätzte Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundestagspräsident Norbert Lammert und das Büro des Karlspreises in Aachen, den sie 1981 für ihr Engagement für die Europäische Einigung erhielt. »In Deutschland haben Geburtstage wohl eine größere Bedeutung als anderswo«, vermutet Veil. Nur im Supermarkt sei sie stürmisch begrüßt worden. Die junge Immigrantin, gegen deren Ausweisung sie sich vor einigen Jahren eingesetzt hatte, war endlich zurück an ihrem alten Arbeitsplatz an der Kasse. »Sie wusste sogar, dass ich Geburtstag habe. Das war eine schöne Überraschung.«