Monatelang haben die Sängerinnen, Sänger und Bands aus insgesamt 37 Ländern geprobt. Alle wollen dabei sein – sie hoffen, es ins Finale zu schaffen und am Samstagabend zu gewinnen. Stellvertretend für Kiew wird der Eurovision Song Contest (ESC) in diesem Jahr in der nordwestenglischen Stadt Liverpool ausgetragen.
Im vergangenen Jahr hatte die ukrainische Gruppe »Kalush Orchestra« beim ESC gewonnen. Der nächste Wettbewerb findet traditionell immer im Land der Vorjahressieger statt. Wegen Russlands Kriegs gegen die Ukraine mussten die Veranstalter jedoch auf eine andere Stadt ausweichen.
Für die Sängerin Mae Muller wird es ein Heimspiel. Die 25-Jährige tritt für das Vereinigte Königreich an und hat inzwischen auch den Segen des neu gekrönten Königs Charles erhalten. Muller hat ihn und seine Frau Camilla kürzlich getroffen. Charles sagte ihr, er unterstütze sie und werde ihren Auftritt live verfolgen.
GROSSVATER Muller geht mit dem Titel »I wrote a Song« an den Start, ein Lied, das sie ihrem ehemaligen Partner widmet. Die Londonerin kommt aus einer jüdischen Familie. Der »Sunday Times« erzählte sie, dass sie und andere Familienmitglieder einen Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft eingereicht hätten, da ihr Großvater während der Zeit des Nationalsozialismus aus Deutschland flüchten musste. Muller hofft, demnächst mit einem deutschen Pass problemlos innerhalb der Europäischen Union unterwegs zu sein.
Ihre Teilnahme am ESC ist nicht unumstritten. So stieß die rechte Presse in Großbritannien auf sarkastische Kommentare, die Muller vor drei Jahren über den damaligen Premierminister Boris Johnson gemacht hatte sowie die Bemerkung »Ich hasse dieses Land«. Mit diesen Worten hatte Muller während der Corona-Pandemie auf die Ablehnung der Regierung Johnson reagiert, Mahlzeiten für Schulkinder aus ärmeren Familien vorübergehend nicht zu unterstützen.
In Interviews mit britischen Medien erklärte Muller wiederholt, dass ihre Tweets aus dem Zusammenhang gerissen worden seien. »Ich schätze mich glücklich, in einem Land zu leben, wo ich als junge Frau sagen kann, wie ich mich fühle«, betonte sie im britischen »Guardian«. Sie sei stolz auf das Land und seine vielfältigen Menschen. »Das Vereinigte Königreich verdient deshalb das Beste, und manchmal, wenn es nicht geschieht, reagiere ich impulsiv«, sagte sie weiter.
TANZ In den Tagen vor dem Finale wollte sich Muller in Liverpool vor allen mit Noa Kirel treffen. Die 22-Jährige aus Ra’anana tritt für Israel mit der Tanznummer »Unicorn« auf. »I’m gonna stand here like a unicorn/Out here on my own/I got the power of a unicorn/Don’t you ever learn?« (»Ich stehe hier wie ein Einhorn/Auch wenn ich allein bin/Ich habe die Kraft eines Einhorns/Wirst du es je verstehen?«).
Sie hoffe, sagt Kirel, dass sich ihr Land hinter dem Lied vereinen werde. »Es ist ein Lied, das uns alle repräsentiert, das ganze Land.« Auf ihrem Instagram-Account sieht man Kirel mit dem israelischen Staatspräsidenten Isaac Herzog in dessen Büro. Dazu die Bemerkung: »Jetzt weiß ich, was ich machen will, wenn ich groß rauskomme.«
Eigens für sie und ihr Team gab es einen EL-AL-Flug von Tel Aviv nach Liverpool. Am Flughafen wurde Kirel unter anderem von Chabad-Rabbiner Avrohom Kievman empfangen, der ihrem Team ein Angebot für koschere Mahlzeiten machte. »Einige haben es angenommen«, sagte Kievman. Er hat das Team am vergangenen Schabbat mit Challot und Kerzen beliefert.
»Es ist diese Mischung aus Ernst und völligem Blödsinn, die mich nicht mehr loslässt.«
Jason Gardner
Kirel leistete ihren Wehrdienst in der Musiktruppe des israelischen Militärs und war davor, im Alter von 16 Jahren, jüngstes Mitglied der Jury der Musikshow Israelʼs Got Talent. Den internationalen Medien präsentierte sie sich kürzlich im silbernen rücken- und schulterfreien Dress mit zwei riesigen geflochtenen Zöpfen. Sie sagte, als der Eurovision Song Contest das letzte Mal in Großbritannien stattfand, habe eine Israelin gewonnen, Dana International. Kirel sieht dies als ein positives Omen für sich.
Obwohl sich laut der letzten Volkszählung in Liverpool nur knapp 2000 Menschen als jüdisch bezeichneten, gibt es im Umfeld der Stadt zahlreiche Synagogen. Aufgrund der an den vier örtlichen Universitäten Studierenden mag die tatsächliche Zahl der Juden jedoch höher sein. Der aus Manchester stammende 21-jährige Jason Gardner ist einer von ihnen. Und wie so manch anderes Gemeindemitglied freut er sich auf das Finale am Samstag. Der Astrophysikstudent ist Schatzmeister des jüdischen Studentenwerks in Liverpool und wurde schon als Teenager zum Eurovision-Fan.
FINALE »Es ist diese Mischung aus Ernst und völligem Blödsinn«, die mich nicht mehr losließ, gesteht er. 2019 flog er sogar fast nach Israel zum Finale, doch wegen verschiedener Studienverpflichtungen wurde nichts daraus. Obwohl er am jetzigen Austragungsort lebe, sei es nicht möglich gewesen, Karten für die Shows zu erhalten, bedauert er. Aber es gebe zahlreiche Eurovision-Partys und Nebenevents in der Stadt, und es laufe ja auch alles im Fernsehen und online.
Zum Finale am Samstagabend möchte er versuchen, mit einem Dutzend jüdischer Gleichaltriger zu einer Feier in der riesengroßen neoklassischen St. Georgeʼs Hall zu gehen. Dabei will er entweder eine besondere israelisch-britische Fahne mitnehmen oder je eine Fahne für jedes der beiden Länder.
»Kirel hat meiner Meinung nach bessere Chancen als Muller, weil ihr Song einfach besser rüberkommt«, glaubt Gardner. Muller sei ihm jedoch vor allem wegen des Zoffs mit den rechten Medien sympathisch. Auch die deutsche Band »Lord of the Lost« hält Gardner für eine vielversprechende ESC-Nummer. Sieger jedoch könnte in diesem Jahr erneut die Ukraine werden, denkt er.
netta barzilai Besonders freuen würde er sich, wenn er in den nächsten Tagen einen Auftritt von Netta Barzilai, der israelischen Eurovision-Siegerin von 2018, erleben könnte. Die 30-Jährige ist ebenfalls nach Liverpool gereist und möchte beim Finale am Samstag mit einer neuen Nummer auftreten. »Vielleicht kann man sie in einem Klub irgendwo erleben«, hofft Gardner und gesteht aufgeregt, dass er so ein Ereignis nicht in Worte fassen könnte.
Dann verrät er ein offenes Geheimnis: »Ich habe gehört, dass Noa Kirel um eine Mesusa an der Tür ihrer Unterkunft und ihres Umkleidezimmers gebeten hätte«, sagt er. »Auf dass sie am Samstag Glück hat.«