Literaturspezial

Liebeszauber in New York

»Die Geschichte von Moinous & Sucette. Ihre Liebesgeschichte. Sie sollte erzählt werden. Die Intensität der darin enthaltenen Hoffnung. Die Heftigkeit der möglichen Enttäuschung. Auf die eine oder andere Weise sollte sie erzählt werden.«
Ein Mann. Eine Frau. Und der Washington Square. 1954 begegnen sich in den ersten Sätzen des Romans von Raymond Federman der naturalisierte, fünf Jahre zu- vor eingewanderte 23-jährige gebürtige Franzose namens Moinous, also »Ich-Wir«, der Englisch noch immer mit unüberhörbar französischer Einfärbung spricht, der durch den Holocaust seine Eltern und Schwestern verloren und selber auf einem Bauernhof überlebt hatte und der sich nach dem Militärdienst als Gelegenheitsarbeiter in New York durchschlägt, und Sucette. Sie, neun Jahre älter als er, entstammt einer gehobenen bürgerlichen Familie aus Boston, war kurz aus dem goldenen Käfig ausgebrochen, als sie zwei Jahre lang in einer Lampenschirmfabrik in Brooklyn gearbeitet und dort für die Kommunistische Partei agitiert hatte. Hinter ihr liegen zwei Ehen, zwei Scheidungen und eine Fehlgeburt. Die beiden stoßen auf dem Washington Square aufeinander, es entspinnt sich eine Liebesbeziehung. Oder doch nicht?
Denn Raymond Federman, 1928 in Paris geboren und am 9. Oktober des vergangenen Jahres in San Diego gestorben, einziger Schoa-Überlebender seiner Familie, der Ende der 1940er-Jahre in die USA emigrierte, in Buffalo/New York Literatur lehrte und lebenslang Englisch mit starker französischer Einfärbung sprach, wäre nicht Federman, der jüdische postmoderne Zauberer, wenn er diese Liebesgeschichte realistisch erzählen würde. Das zweite zufällige Treffen, die Kaffeeeinladungen, die Umkreisungen, Gespräche, Streit und Intimitäten, die angedeutete Entfremdung, das nahegelegte Zerbrechen der Beziehung: Nichts wird einfach so erzählt. Nicht zufällig fällt einmal der Name des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa, dessen Filme Sucette schätzt. Schließlich führte Kurosawa in Rashomon vor, wie eine Geschichte immer wieder neu aufgerollt und multiperspektivisch geschildert werden kann.
Das ist das Grundprinzip dieses 1985 veröffentlichten Kaleidoskop-Romans. Peter Torberg hat seine Übersetzung von 1987 durchgesehen und durch ein längeres Interview mit Federman ergänzt, dessen Abschluss der Tod durchkreuzte.
In Version meines Lebens schrieb Federman: »Mein Leben begann in Unverständnis und Zusammenhanglosigkeit, und mein Werk ist davon zweifellos geprägt worden. Vielleicht ist das der Grund, warum es als experimentell bezeichnet worden ist.« Und in Surfiction, seinen Poetikvorlesungen, findet sich der für sein Werk zentrale Satz: »Die Wirklichkeit der Vorstellung ist realer als die Wirklichkeit ohne Vorstellung, und außerdem hat die Realität noch nie wirklich interessiert. Realität ist und war immer meine Art der Entzauberung; was die Realität so faszinierend macht, ist die eingebildete Katastrophe, die sich dahinter verbirgt.«
Eine Liebesgeschichte ist wohl der einfachste, jedenfalls der zugänglichste Einstieg in den Federman’schen Kosmos, der voller Lachen steckt. »Laughterature«, Lachteratur, nannte der ansteckend lebenslustige Autor seine sich im Akt des Erzählens durch Lachen aufhebende Prosa. Die Figuren sind zart und erfrischend einfühlsam, die typografischen Experimente, das bei diesem Autor oft etwas pubertäre Vergnügen an verbotenen Genüssen und Skatologischem sind in den Hintergrund gedrängt. Nicht umsonst kürte seine Frau Erica diesen leichten, amüsanten, sinnlichen Roman zu ihrem Lieblingsbuch. Auch wenn Federman stets weitaus größeres Vergnügen am literarisch leichthändigen Schachwörterspiel fand denn an einer Tiefenpsychologisierung seiner Figuren, so gelangen ihm hier doch eindringliche Schilderungen der Nöte und der Ängste, der Freuden, Sehnsüchte und des erfüllten Liebesglücks von Moinous und Sucette. Denn so, wie Federman erzählt, könnte es tatsächlich gewesen sein mit den beiden. Oder auch anders. Oder gar nicht. Oder? Alexander Kluy

Raymond Federman: Eine Liebesgeschichte oder so was. Roman. Gefolgt von einem Gespräch: »Als ich das Tempus gewechselt habe«. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Matthes & Seitz, Berlin 2010, 224 S., 19,90 €

Kultur

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