von Sabine Brandes
Langsam, wenn in der Dämmerung die Schatten länger werden, packen Familien die Spielsachen ein, ziehen Mädchen und Jungs ihre Inlineskater von den Füßen, genehmigen sich eine letzte Erfrischung am Kiosk. Doch die Sportek in Herzliya schließt ihre Pforten noch lange nicht. Die Rollschuhfläche, tagsüber ganz von der Jugend in Beschlag genommen, wird jeden Samstagabend zu einem Hotspot der Tanz-wütigen, der einsamen Herzen und all je-
ner, die gern sehen und gesehen werden.
Der israelische Volkstanz, in der Landessprache »Rikudei Am«, lange totgesagt, ist lebendig wie nie zuvor. Immer mehr erlebt der Tanz der Pioniere eine Renaissance, ist wieder angesagt im ganzen Land. Hundertausende nehmen mindes-tens einmal pro Woche an den öffentlichen Veranstaltungen teil. Doch Rikudei Am ist mehr als nur das bloße rhythmische Bewegen zur Musik. Immer mehr Singles gehen zum Tanzen, um ihr Beschert zu finden, den Partner fürs Leben. Die Auswahl ist groß: Bei manchen Massenveranstaltungen drehen sich mehr als 2.000 Frauen und Männer jeglichen Alters gemeinsam im Kreis. Schätzungsweise sind etwa die Hälfte Singles.
In Herzlija hat der DJ seinen Tisch ausgepackt, die mobile Lichtorgel aufgestellt und die Lautsprecher im Maxiformat auf volle Lautstärke gedreht. Hunderte drängen schon nach wenigen Minuten auf die Tanzfläche, lauschen auf die ersten Anweisungen inmitten der dröhnenden Beats. Die Gesichter sind so vielfältig wie die Bewohner Israels. Paare allen Alters, helle und dunkle Typen, große, kleine, dicke, dünne. Einer, der gleich ins Auge fällt, trägt hautenge weiße Jeans und ein gleichfarbiges T-Shirt mit der Aufschrift: »Superstar«. Das Zeug dazu hätte er sicher, so gekonnt wie er seinen Körper zu den Klängen von Maja Buskilas neuestem Hit bewegt.
DJ Amnon Amram gibt lediglich knappe Anweisungen, wie »rechts herum« oder »aufeinander zu«. Auffällig viele kennen die Schritte, verpassen kaum einen Einsatz für die Drehungen. Ebenso viele tanzen mit wachem Auge, schauen, was der Datingmarkt an diesem Abend so hergibt. Eine von ihnen ist Ronit Aschkenasi. Nach ihrer Scheidung vor zehn Jahren würde sie gern wieder einen festen Partner haben. Jeden Samstagabend fährt die Lehrerin aus Tel Aviv nach Herzlija. »Ich liebe das Tanzen, die Gemeinsamkeit der Menschen, komme aber auch, um jemanden kennenzulernen«, gibt sie freimütig zu.
»Es ist ein bisschen wie beim Speed-Dating«, meint Ronit. Bei dieser Variante des Kennenlernens unterhält sich jeder Teilnehmer lediglich einige Minuten mit seinem Gegenüber, dann geht es weiter zum Nächsten. »Beim Rikudei Am aber geht es ohne Peinlichkeiten ab, denn man tut einfach das, weswegen man hergekommen ist: tanzen. Gefällt man sich, hakt man sich für den nächsten Tanz eben noch einmal unter. Und wenn nicht, dann halt nicht.« Es sei ihr so lieber als etwa nach Männern im Internet zu schauen, wo alles anonym und kalt sei, findet sie. »Hier schaut man jemandem aus Fleisch und Blut in die Augen, nicht einem geschönten Foto auf dem Bildschirm. Man singt ge-
meinsam die Lieder mit, lacht und kann dabei irgendwie besser fühlen, ob es sich um einen netten Menschen handelt.«
Assaf Hochberg ist kein Single und dennoch begeisterter Volkstänzer. Jeden Montag und Dienstag zieht es ihn in die Sporthalle von Chof HaKarmel, wo er ab-
wechslend mit seiner Ehefrau und einer Tanzpartnerin lockeren Schrittes über den Boden gleitet. Keine Eifersüchteleien? »Ach was«, meint Hochberg und lacht, »meine Frau liebt Volkstanz, mag aber keine Partnertänze, also tanze ich die mit einer anderen. Das ist für sie völlig okay.« Solange es dabei bleibt, fügt der 43-Jährige hinzu. »Tanzen ist in Ordnung, flirten aber geht nur mit meiner eigenen Frau.« Viele andere würden das nicht so genau nehmen, ist er sicher. »Es hat manchmal schon etwas von einer Fleischbeschau, mindes-tens die Hälfte hier sind sicher auf Partnersuche.«
Die Vorläufer des Rikudei Am haben die ersten Pioniere bereits am Ende des 19. Jahrhunderts mitgebracht. Die eigentliche Volkstanzbewegung aber ist erst kurz vor der Staatsgründung entstanden. Das erste Festival dieser Art im Kibbuz Dalia am Fuße des Carmelberges im Jahre 1944 gilt als Wiege des Tanzes. In einer kleinen Broschüre waren damals die ersten 22 »Eretz-Israel-Volkstänze« beschrieben, acht davon neu, die anderen basierten auf internationalen Tänzen wie Polka, Hora und Debka.
»Und genau die tanzen wir noch heute«, sagt Ajelet Levy. Sie ist Lehrerin für israelischen Volkstanz, unterrichtet die Schritte an verschiedenen Schulen und bestätigt die aufgeflammte Liebe zur Tradition: »Früher hatte Rikudei Am eine große Be-
deutung, vor allem in den Kibbuzim und Moschawim, doch dann galt er lange als zu altmodisch.« Noch vor zehn, fünfzehn Jahren hätten junge Leute die Tänze zur heimischen Musik als völlig uncool angesehen, so Levy, »heute sind sie wieder richtig in. Ich bekomme ständig mehr Schüler. Das ist wunderbar, denn Volkstanz ist eine Verbindung aus israelischer Kultur, Ge-
meinsamkeit und sportlicher Betätigung.«
Ronit in Herzlija dreht sich währenddessen im Takt, ihre Locken fliegen, ihr Lachen reicht von einer Wange zur anderen. Ihr Partner, ein gutaussehender Mitfünfziger, hält sie fest im Arm. Es scheint, als reiche ein gemeinsamer Tanz den beiden noch lange nicht.