Polen

Liebes Krakau

von Tanja Dückers
und Anton Landgraf

Wer vom Westen aus nach Krakau mit dem Zug fährt, wird immer auf der Strecke zwischen Kattowitz und Kraków Glówny denken: Hier irgendwo liegt es. Auschwitz. Irgendwo hinter all dem üppigen Grün und den verrotteten Fabrikanlagen. Nur 40 Kilometer von der schönsten Stadt Polens entfernt.
Die Polen wollen verständlicherweise wenig mit diesem von Deutschen in ihrem Land errichteten Millionengrab zu tun haben. Und der auf eigene Faust reisende Tourist, der sich nicht mit einem Auschwitz-Besichtigungsbus zum Vernichtungslager fahren läßt, wird sich wundern, wie schwer es ist, den Weg von der wunderschönen ehemals galizischen Metropole zum Vernichtungslager zu finden. Die Schilder sind spärlich gesät, windschief und überaus klein. Wer endlich in Oswiecim angekommen ist, muß dort immer noch die beiden Lager finden. Eine Berliner Organisatorin kulturhistorischer Reisen nach Polen verzichtet manchmal im Rahmen einer Krakau-Fahrt bewußt auf einen Besuch von Auschwitz. Ihrer Erfahrung nach überlagert dieser Besuch die gesamte Reise derart, daß die Besucher nachher weder an die malerischen Renaissance- Tuchhallen, an Leonardo da Vincis wunderschöne, matt leuchtende »Dame mit Hermelin« noch an die phantastische Wa- welburg oder all das lebendige städtische Treiben auf dem Marktplatz Rynek denken können, ohne Auschwitz mitzudenken, so, als würde es überhaupt kein gegenwärtiges Polen geben, als wäre Polen nur Deutschlands Hinterhof und Massengrab.
Ruth Fruchtman hat es vor 28 Jahren nach Berlin und nun – als zweite Heimat – nach Südpolen verschlagen. Die schlanke, sensible und zurückhaltend wirkende Frau schreitet den Platz an der Weichsel mit dem kleinen Kiosk, der ungemütlich aussehenden Bushaltestelle und dem herumliegenden Müll ab. »Hier war das, damals, der Sammelplatz.« Lange Zeit erinnerte nur noch der Name »Plac Bohaterów Getta« (Platz der Ghettohelden) an die Geschichte dieses Ortes. 2005 wurde der Platz endlich mit einem Mahnmal versehen: 60 Eisenstühle, fest im Boden verankert, sollen an die über 60.000 Juden erinnern, die vor dem deutschen Einmarsch in Krakau gelebt haben. Viele Juden brachten ihr Hab und Gut, sogar Möbel, zum Sammelplatz mit. Die Stühle weisen alle in Richtung des KZs Plaszów, in das die Juden (die, die nach der »Auflösung« des Ghettos noch am Leben waren) verfrachtet wurden. Die weiträumige Stuhl-Installation, die auch normale Sitzplätze neben der Straßenbahnhaltestelle in ihr Konzept integriert, erinnert an Werke des polnischen Künstlers Tadeusz Kantor. An einer Ecke des »Plac Bohaterów Getta« befindet sich die alte Apotheke, jetzt ein Museum, in der der Apotheker Tadeusz Pankiewicz als einziger Nichtjude wohnte und die Ghettobewohner unter größter Gefahr für sein eigenes Leben mit gefälschten Dokumenten, Lebensmitteln und Pharmazeutika unterstützte. Pankiewicz gehört zu den »Gerechten der Völker«, die von Yad Vashem geehrt werden. In der ehemaligen Apotheke hängt neben der Eingangstür das Foto eines Mädchens, das einen Stuhl über die Weichsel trägt – zu ihrer neuen »Unterkunft« im Ghetto. Das macht die Symbolik der Stuhl-Installation noch deutlicher.
Ruth Fruchtman hat hier ein neues Zuhause gefunden, in Podgórze, das bis 1913 eine eigene, unabhängige kleine Stadt war und heute Vorstadt von Krakau auf der anderen Seite der Weichsel ist. Noch jetzt scheint der Stadtteil mit seiner durchgehenden Niedrigbebauung nicht ganz zur Großstadt Krakau zu gehören. »Die Juden mußten aus Krakau über die Brücke hierher laufen, sozusagen vor die Tore der Stadt.« Mit diesen Worten geht Ruth über die lange Brücke, die von Podgórze hinüber nach Kazimierz führt. Kazimierz ist viel lieblicher, stilvoller als der Vorstadtbezirk, der von vielen Brachen und Industriegebieten gezeichnet ist. In Kazimierz kann der Tourist vielleicht etwas vom alten Galizien wiederfinden, hier scheint das multikulturelle Erbe dieser Regionen besonders spürbar, in den vielen krummen Gäßchen und Lädchen, den Cafés, in denen die Zeit stehengeblieben sein könnte. Da sitzt man neben alten Fotos auf verrußten Wänden und unglaublich ungesund aussehenden Kuchen in den Vitri- nen. Über den Läden und Cafés, an denen Ruth vorbeieilt, sieht man gelegentlich hebräische Schriftzeichen. Je mehr es werden, desto näher ist man dem Zentrum von Kazimierz in der Szeroka-Straße, der Breiten Straße, die hier in einen großen Platz mündet. Ruth Fruchtman weist auf das »Ariel« hin. Hier wird abends Klesmer-Musik gespielt, und die vielen Sprachen, die man hört, verraten, aus wie vielen Ländern Reisende hierherkommen.
Die Schriftstellerin schüttelt den Kopf über die Touristen, die denken, bloß weil der Bezirk Kazimierz jetzt wieder als jüdische Enklave in Krakau gilt, sei dies auch der Bezirk gewesen, in dem damals das Ghetto errichtet wurde. »Im Gegenteil, aus Kazimierz wurden die Juden ja auf die andere Seite des Flusses vertrieben!«
Mit der jüdisch-polnischen Geschichte hat sich Ruth Fruchtman intensiv auseinandergesetzt. Deshalb kann sie auch das in so vielen Reiseführern beschworene »neue jüdische Leben« in Krakau als Illusion enthüllen. »Vor dem Krieg gab es 70.000 Juden in Krakau, sie machten 25 Prozent der Stadtbevölkerung aus. Heute sind nur noch 200 Synagogenmitglieder gemeldet«, erzählt sie, während wir über den Plac Nowy (früher: Altjüdischer Markt) schlendern, einem Platz mit vielen Kneipen und einem äußerst lebendigen Basar in der Mitte. Viel mehr als ein Bezirk authentischen jüdischen Lebens ist Kazimierz jetzt nämlich ein hipper Studenten- und Künstlerbezirk. Hier, keinen Steinwurf von der Alten Synagoge und der Szeroka-Straße entfernt, sitzen junge Leute mit Rasta-Locken und ausgewaschenen Cordhosen in den Straßencafés oder einfach auf dem Bürgersteig. Die Stimmung ist gut, jemand hat eine lila angemalte Geige dabei, es wird laut gelacht und gesungen. Kazimierz, das auch außerhalb der eigentlichen Altstadt, dem touristischen Zentrum von Krakau, liegt, ist eine überraschende Mischung aus folkloristischen Elementen und einer vitalen Jugendkultur, die sich immer dort ansiedelt, wo die Mieten gering sind. Ruth schaut noch beim jüdischen Zentrum vorbei, wo sie Freunde hat, bevor wir uns auf dem Weg zurück in ihre kleine Wohnung in Podgórze machen.
Dem Einzimmer-Reich sieht man an, daß jemand Mühe darauf verwendet hat, sich hier eine Bleibe zu schaffen, sich hier wohlzufühlen. Diese Wohnung, spürt man, wurde nicht für hektische Wochenendtrips hergerichtet; kein Jet-Set-Leben zwischen den alten West- und den neuen Ost-Metropolen, eher das einer zurückgezogen lebenden Individualistin – vielleicht auch ein wenig aus einer anderen Zeit – weht einen hier an. Daß wir das Jahr 2006 schreiben, spürt man erst, wenn der Blick auf den Laptop und den Drucker auf dem kleinen Schreibtisch fällt. Warum Krakau? Ruth lacht. 1985, erzählt sie, war sie das erste Mal in Warschau, dann in Krakau und hätte sich in die Stadt »einfach verliebt«. In die Stadt, wohlgemerkt, nicht in einen Menschen in dieser Stadt.
Jahrelang hatte Ruth Angst, Polen zu besuchen. Sie ist Jüdin. »Die ersten Dinge, die ich über die Polen hörte, waren sehr negativ«, sagt sie, während sie einen Kräutertee aufgießt. Es ist warm in ihrer orangegestrichenen Küche, die Scheibe beschlägt von innen. Draußen, direkt hinter ihrem Fenster, fußläufig, verdichtet auf wenige Quadratkilometer, findet Ruth Fruchtman viele Spuren zurück in die Vergangenheit: der Sammelplatz für die Juden, die Emaille-Fabrik von Oskar Schindler und Plaszów, das riesige ehemalige Konzentrations- und Zwangsarbeiterlager. Ruth ist es wichtig zu betonen, daß auch nichtjüdische Polen in Plaszów ermordet wurden.
»Polen, das war für mich das Land, in dem die Juden ermordet wurden. Ein sehr düsteres Land. Und ich wußte, wenn ich hierherkomme, würde ich Auschwitz besuchen müssen. Ich dachte, ich schaffe das nicht.« Während sie ein Stück der in Krakau so beliebten leuchtend rosafarbenen, zuckerwatteartigen Torte löffelt, sagt sie leise: »Am Anfang ist mir das ganze Land vorgekommen wie ein Friedhof. Auch meine polnischen Bekannten sagten: Dies ist ein sehr trauriges Land.« An der Art, wie Ruth sich mit geschlossenen Augen einen Bissen Kuchen auf der Zunge zergehen läßt, merkt man, daß sie ein Mensch ist, der nicht nur über das Leben grübelt, sondern es auch genießen kann. Lebhafter fährt sie fort: »Aber dann war ich tatsächlich hier in Polen, und es war so ganz anders als ich es mir vorgestellt habe! Ich fand die Polen so sympathisch! Das Land hat mich so angezogen, es war so anders, als ich es mir jemals hätte vorstellen können.«
Ein Teil von Ruths weitverstreut lebender Familie, die aus Polen und Litauen stammte, hat die Nazi-Diktatur nicht überlebt. Einige Familienmitglieder sind aus dem besetzten Paris deportiert worden. Französisch, Englisch und Deutsch spricht Ruth, auch ein wenig Italienisch. Aber die Schriftstellerin ist selten zufrieden mit sich. Seit einigen Jahren lernt, besser gesagt: spricht sie auch Polnisch, aber es ist in ihren Augen nicht der Rede wert. Ruth Fruchtman wurde zwar in London geboren, sie schreibt allerdings nur in Deutsch, ihrer zweiten »Muttersprache«, wie sie es nennt. In ihren Erzählungen und in ihren journalistischen Beiträgen setzt sie sich mit der polnisch-jüdischen und der israelisch-palästinensischen Problematik auseinander.
Es gibt einen besonders schönen Ort in Krakau: die Villa Decius. In dem malerischen Renaissance-Schlößchen, das Stipendien für Schriftsteller vergibt, begann Ruth die Arbeit an ihrem noch unvollendeten Roman »Krakowiak«. Der Krakowiak, ein typisch polnischer Tanz, ist in Krakau entstanden, und auch der Roman ist »in Tanzform komponiert«. Es ist eine Familiengeschichte über die Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Polen, ein hoffnungsvoller Roman, in dem das Verhältnis zueinander als ein versöhnliches gedacht wird. Die eigentliche Hauptfigur des Romans ist jedoch – wen überrascht es? – die Stadt Krakau selbst.
Ruth ist jetzt an die beschlagene Fensterscheibe getreten: »Chopin hat ein sehr schönes Rondo komponiert, das heißt auch ›Krakowiak‹.« Sie macht kleine Schritte vor sich hin, als wolle sie, allein vor dem Fenster, die in der Dämmerung schimmernden Häuser und Kirchen aus Gotik, Renaissance und Barock zum Tanz auffordern.
Wie lebt es sich heutzutage als Jüdin in Polen? Ist man, wenn man seinen ersten Wohnsitz ausgerechnet in Berlin hat, jetzt völlig frei von quälenden Gedanken? Wie geht man mit dem polnischen Antisemitismus um, wie spürbar ist er? »Daß ich jüdisch bin, hat hier in Krakau niemanden interessiert. Ich fühle mich als Mensch angenommen. Dieses ewige Antisemitismus-Vorurteil gegen die Polen. Ich finde das manchmal paranoid, wenn es von Juden kommt.« Ruth macht eine kleine Pause, bevor sie hinzufügt: »Und maßlos unfair, wenn es aus Deutschland kommt.« Dann räumt sie aber ein: »Erst wenn ich jemanden besser kenne, sag’ ich, daß ich jüdisch bin. Mittlerweile hat es sich im Haus herumgesprochen, einer gewissen Erwähnung bedarf es noch immer.«
Wo verortet sich jemand wie Ruth, die in so vielen Ländern zu Hause ist, viele Sprachen spricht, an vielen verschiedenen Orten gelebt und Tote betrauert hat? »Ich habe einen britischen Paß, ich spreche und schreibe in deutsch, ich betrachte mich als Berlinerin«, sagt Ruth, »ach, als Europäerin.« Und fügt hinzu: »Mit zweitem Wohnsitz in Krakau.« Mit einem hintergründigen, feinen Lächeln, von dem man nicht weiß, wem es eigentlich gilt – einem Land, einer Stadt, einer Sprache oder einem Menschen –, gießt sie noch einen Tee auf.

Tanja Dückers (38) ist Schriftstellerin und Journalistin. Zuletzt erschien von ihr »Der längste Tag des Jahres« (Aufbau Verlag). Anton Landgraf arbeitet als Redakteur für das AI-journal von Amnesty International.

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