Assimilation

Lieber unter sich bleiben

von Yoel Shiloh

Die Affaire um Dina ist die erste größere Geschichte in Jakobs Haus nach seiner Rückkehr ins Land Kanaan. In dieser Geschichte geht es auch zum ersten Mal wirklich um Jakobs Kinder, die fast allesamt im Exil geboren wurden – im Hause Labans in Haran. Der Übergang von den einzelnen Patriarchen zu einem großen Familienverbund enthält auch eine bestimmte Herausforderung: Wie soll die Familie wachsen, ohne sich mit der im Land lebenden kanaanitischen Bevölkerung zu vermischen?
Die Geschichte um Dina, Juda und Tamar in Kapitel 38 beschäftigt sich mit dieser Frage der Assimilation. Um dieselbe Frage geht es auch in einer Zwischenbemerkung in der Abstammungsliste: »Und Saul, der Sohn der Kanaaniterin« (1. Buch Moses, 46, 10). Die Josephsgeschichte enthält die Lösung des Problems, denn Abraham war beim Bundesschluß (1. Buch Moses, 15, 13-15) gesagt worden, daß seine Nachfahren nach Ägypten ziehen, dort versklavt und sich nicht mit den Einheimischen vermischen würden. Danach sollten sie als mächtiges Volk ins Land Kanaan zurückkehren und dann imstande sein, das Land zu erobern und zu bevölkern.
In den letzten Versen von Kapitel 33 wird das Desaster schon angedeutet, von dem in Kapitel 34 berichtet wird. Als Jakob sich der Grenze Kanaans näherte, errichtete er ein Haus und Hütten, die eigentlich auf eine dauerhafte Niederlassung hinweisen, während Abraham und Isaak noch das Nomadenleben von Hirten geführt hatten. Was veranlaßte Jakob, die Rückkehr in das Haus seines Vaters zu verzögern? Sah er vielleicht die Zeit zur Inbesitznahme des Landes gekommen? Oder wollte er nach den Härten in Labans Haus und nach der Begegnung mit seinem Bruder Esau nur etwas zur Ruhe kommen?
Das Leben auf seinem Stück Land führt die nachfolgende Tragödie herbei: Die Familie kommt in Kontakt zu den Nachbarn, die Tochter freundet sich mit den Mädchen am Ort an und wird für den Sohn des Herrschers der Stadt zur leichten Beute. Das ist der Beginn der Assimilation. Sie nimmt ihren Anfang mit Zwang, der von der Mehrheit ausgeübt wird.
Dies erklärt auch den Zorn der Brüder Dinas über den Mißbrauch ihrer Schwester. Das war zugleich eine demütigende Tat von Außenseitern und eine Kampfansage an die Familienehre. Zugleich war dieses Verhalten ein Verstoß gegen das Verbot, sich mit der örtlichen Bevölkerung einzulassen.
Jakobs Familie rechnete indes nicht damit, daß der Vater Hamor so gerissen war, wie der Sohn lüstern war. Geschickt stellte der Vater die Missetat seines Sohnes als politische Angelegenheit dar und schlug eine diplomatische Eheschließung zwischen dem Sohn des örtlichen Machthabers und der Tochter des wohlhabenden Familienoberhauptes vor. Wäre alles glatt gegangen, wäre diese Heirat ein günstiges Vorzeichen für die Verschmelzung der beiden Gruppen gewesen.
Die Söhne Jakobs entschieden sich für eine negative Psychologie zur Abwehr der Assimilationsbedrohung, indem sie den Vorschlag, sich zu assimilieren, zwar annahmen, ihn aber mit der Bedingung verknüpften, daß sich die Männer beschneiden lassen müßten. Diese Hürde war so hoch angesetzt, daß der Handel nie zustande kommen konnte. Als Jakobs Söhne »mit List« (34, 13) diese Bedingung stellten, hatten sie wahrscheinlich noch nicht vor, alle männlichen Bewohner der Stadt zu töten. Vielleicht dachten sie, die Männer der Stadt würden ihre Bedingung ablehnen, der ganze Handel würde damit hinfällig, so daß Dina freigegeben werden mußte. Es sieht so aus, als beabsichtigten Jakobs Söhne eine gewaltsame Lösung nur für den Fall, daß die Männer von Schechem ihrer Beschneidung tatsächlich zustimmen sollten.
Genau das geschah. Der Herrscher des Landes bewies erneut erstaunliche diplomatische Feinfühligkeit und legte beiden Seiten die Bedingungen der Übereinkunft so dar, daß jede Seite überzeugt war, den meisten Nutzen daraus zu ziehen. Der Vorteil des Abkommens für Jakobs Familie lag auf der Hand: Sie würden aus der Stellung rechtloser Fremder befreit und zu Bürgern werden. Was seine eigenen Leute betraf, faßte Hamor die geplante Übereinkunft vor den Männern von Schechem in die Worte zusammen: »Ihre Herden, ihre Habe und all ihr Vieh würden dann ja unser sein.« (34, 23) Die Beschneidung soll der Preis für alle Vorteile sein, die die Verbindung beider Gruppen für die Bewohner Schechems mit sich bringen sollten. Zudem wird dieser Preis noch heruntergespielt: Seht, sie unterziehen sich doch auch dieser Prozedur, und sie sind stark und gesund, also kann die Sache so schlimm nicht sein. Was den Untertanen allerdings nicht verraten wurde, war der wirkliche Beweggrund für den Abschluß der Vereinbarung: die Fleischeslust des Prinzen und die materielle Gier der Stadtbewohner. Beides führt zu ihrem bitteren Ende.
Das Kapitel schließt nicht mit Siegesgeheul und der Freude über die Vernichtung der Bösen, auch nicht mit Bedauern über das Dahinschlachten eines Volkes, das den Tod nicht verdient hatte. Das Gespräch zwischen Jakob und seinen Söhnen am Ende der Geschichte (34, 30-31) spiegelt das Schwanken, das wir selbst fühlen, wenn wir versuchen uns klarzumachen, was da eigentlich geschehen ist. Jakob, das Oberhaupt der Familie, der auch für deren Überleben die Verantwortung trägt, argumentiert pragmatisch: »Ich bin ja nur ein gezähltes Häuflein, wenn sie sich gegen mich zusammentun, so werden sie mich erschlagen.« Die hitzköpfigen jungen Leute halten ihm dagegen ein moralisches Prinzip vor Augen: »Darf er unsrer Schwester wie einer Dirne tun?«
Zwischen den beiden Positionen muß man nicht unbedingt einen Gegensatz sehen. Der Beginn von Jakobs Äußerung: »Ins Unglück stürzt ihr mich, da ihr mich in üblen Ruf gebracht habt bei dem Bewohner des Landes« – besitzt einen moralischen Beigeschmack, und die Fortsetzung seiner Äußerung – »wenn sie sich gegen mich zusammentun« – ließe sich als als eine Art Strafe für das verwerfliche Massaker begreifen. Umgekehrt kann man in der Erwiderung Simeons und Levis einen pragmatischen Aspekt ausmachen. Auf die Position des Vaters, nach der ein Überleben nur möglich ist, wenn man sich bemüht, nicht aufzufallen, erwidern sie: Auf diese Weise werden wir in ihren Augen verächtlich und zum Freiwild. Nur wenn wir jede an uns begangene Missetat mit Gewalt beantworten, können wir in Ehren unter ihnen leben.
Die Tora stellt sich im Folgenden nachhaltig hinter die Argumentation der Söhne: »Dann brachen sie auf, und es lag ein Schrecken Gottes auf den Städten, die rings um sie her waren, daß sie den Söhnen Jakobs nicht nachsetzten.« (1. Buch Moses 35, 5). Hatten die Söhne Jakobs allerdings nicht alle Männer von Schechem getötet? Wozu noch dieser »Schrecken Gottes«? Ralbag versucht, das Massaker als Akt der Selbstverteidigung zu rechtfertigen oder wenigstens zu begreifen. Hätten sie die Männer von Schechem leben lassen, dann hätten sie, nachdem sie sich von der Beschneidung erholt hatten, den Söhnen Jakobs nachgesetzt, um sich Dina zurückzuholen und sich an Jakobs Haus für die Täuschung zu rächen.
So kurz nach der Tat konnte Jakob seinen Söhnen schlecht Vorwürfe machen. Der Talmud lehrt, daß man seine Meinung vorbringen soll, aber er lehrt uns auch, daß man zu schweigen hat, wenn die eigenen Worte eindeutig nicht befolgt werden. Als sie ihre verletzte Schwester sahen, waren die Brüder nicht bereit, sich Vorwürfe anzuhören. Als dagegen ihr Vater auf dem Sterbebett lag, waren sie empfänglich für seine Worte, erst da erhob Jakob Vorwürfe gegen das Bruderpaar Simeon und Levi (1. Buch Moses, 49, 5), die Brüder Dinas und Brüder in ihrem gemeinsamen Plan: »In Ihrem Zorn erschlugen sie den Mann.« (1. Buch Moses, 49, 6) Sie hatten die Männer von Schechem im Zorn erschlagen, weil diese ihre Schwester mißhandelt hatten. Aber selbst »im Guten«, als ihre Rache gestillt war, »schnitten sie des Stieres Sehnen« und plünderten.

Wajischlach: 1. Buch Moses 32,3 bis 36,43

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fakultät für Jüdische Studien, www.biu.ac.il

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