von Barry Yeoman
Ein arktischer Wind hat die Straßen von Brooklyn leer gefegt. Auf Hochtouren laufen die Heizungen im Living Springs Family Center, das eine Kirche der Pfingstgemeinde beherbergt. Die Zimmerdecken sind aus gestanztem Blech, und die Musik dröhnt – ein fetziges Gospellied, bei dem Gitarre und E-Piano dominieren. Dreißig karibische Einwanderer schmettern den 113. Psalm, heben und senken dabei die Arme, um den Kreislauf der Tage anzudeuten: »Vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang sei der Name des Herrn gelobt.« Hüften kreisen, der Fußboden bebt, Menschen umarmen sich. Nach einer Stunde ist die Gemeinde eingestimmt auf die Gastrednerin dieses Vormittags. Karol Joseph, Mitglied der missionarischen Bewegung »Jews for Jesus«, ist gekommen, um einen Vortrag über »Christus an Pessach« zu halten.
Es ist eines von mehreren ausgeklügelten Programmen, die von der Kirche, die über ein Jahresbudget von 20 Millionen Dollar verfügt, entwickelt wurden, um den Christen an der Basis zu helfen, unter ihren jüdischen Kollegen, Chefs oder Kunden zu missionieren.
Karol Joseph wuchs in einer Konservativen Synagogengemeinde in Massachusetts, auf; sie flirtete mit Scientology und dem Buddhismus, bevor ein Klassenkamerad sie in den 80er-Jahren zu Jesus führte. Jetzt fühlt sie sich berufen, »Zeugnis abzulegen«, wie sie sagt, das heißt, ihren Glauben weiterzugeben, und zwar »an die Juden zuerst«, wie es das Neue Testament fordert. Die 55-Jährige steht hinter einem Tisch, der mit Pessachsymbolen bedeckt ist. »Wir brauchen eure Hilfe«, appelliert sie an die christlichen Gottesdienstbesucher, »mehr jüdische Menschen hören das Evangelium von einem von euch als von einem von uns.« Christliche Laien seien ebenso wichtig wie professionelle Prediger, wenn es ums Bekehren geht, erklärt Joseph und fordert die Gemeindemitglieder auf, Lehrbücher und DVDs zu kaufen, lokale Bekehrungsveranstaltungen zu besuchen und Geld für die Missionierung von Juden zu spenden.
Jeder, dem Evangelikale einmal auf der Straße ihre comic-artigen Flugblätter in die Hand gedrückt haben, weiß, dass christliche Bestrebungen, jüdische Seelen zu gewinnen, nichts Neues sind. Doch in jüngster Zeit haben die Mitgliederzahlen der evangelikalen Bewegung erschreckend stark zugenommen, und ein großer Teil ihrer Arbeit hat sich auf die Straße verlagert. »Die Versuche, Juden zu missionieren, sind heute raffinierter, und es wird mehr Geld dafür ausgegeben«, sagt Amy-Jill Levine, Professorin für das Studium des Neuen Testaments an der Vanderbilt University. Inzwischen gibt es Hunderte von Organisationen, die untereinander sowie durch ein straff organisiertes Netzwerk mit Medien- und Internet-erfahrenen Leuten und einer gut geölten Fundraising-Maschinerie verbunden sind.
»Chosen People Ministries« zum Beispiel erlebte zwischen 2003 und 2006 einen Einnahmenzuwachs von 31 Prozent auf 7,9 Millionen Dollar. »Jewish Voice Ministries International« mit Sitz in Phoenix, Arizona, berichtet, seit 1993 hätten in Osteuropa, Südamerika und Indien 500.000 Menschen ihre Festivals und Konzerte zur Bekehrung von Juden besucht.
Auch Messianische Gemeinden, die christlichen Glauben mit jüdischer Identität und jüdischen Bräuchen verknüpfen, breiten sich immer mehr aus. Einige nennen sich Synagogen und integrieren jüdische Rituale wie Barmizwa und Beschneidung. In den Vereinigten Staaten gibt es inzwischen fast 400 derartige Gemeinden. Noch mangelt es an bewährten Methoden, die Missionierungsbewegung vollständig zu erfassen. Sie ist diffus und operiert nach Meinung von Fachleuten teils auch im Untergrund.
Immer häufiger leisten die amerikanischen Evangelikalen Arbeit im Wohltätigkeitssektor in Israel. So lieferten »Chosen People Ministries« im Sommer 2006 Lebensmittel im Wert von 50.000 Dollar nach Südisrael, wo zahlreiche Israelis während des Libanonkriegs Zuflucht genommen hatten. Mitch Glaser, Präsident von »Chosen People«, erzählt, seine Leute hätten in Jerusalemer Läden Lebensmittel gekauft und sie in siebenstündiger Fahrt nach Eilat gekarrt. »Natürlich haben wir auch über unsere Liebe zu Jesus gesprochen, während wir Nahrungsmittel verteilten.«
Mit dem Anwachsen der Bewegung in den Vereinigten Staaten entstehen dort auch die dazugehörigen Bildungseinrichtungen. Einige der führenden evangelikalen Schulen, darunter Criswell College in Dallas, Texas, und Western Seminary in San José, Kalifornien, bieten Studiengänge in Judaistik oder Messianischem Judentum. Und die Union of Messianic Jewish Congregations betreibt ein Institut, das Kontakte zu einem evangelikalen Seminar in Florida pflegt, um »Rabbiner« zu ordinieren, die Christus predigen.
Gruppen wie »Jews for Jesus« haben inzwischen Partnerschaften mit großen evangelikalen Gemeinden geschlossen, um Mitglieder zu schulen, wie sie jüdische Nachbarn und Kollegen erreichen.
Jüdische Repräsentanten sind sich bei der Einschätzung des Schadens, den die Missionsbemühungen anrichten, alles andere als einig. »Ich glaube nicht, dass wir es hier mit einer größeren Krise zu tun haben«, erklärt Rabbiner Gary Greenebaum, für die USA zuständiger Direktor für Interreligiöse Angelegenheiten beim American Jewish Committee. Die Zahl der tatsächlichen Bekehrungen scheine eher niedrig zu sein, sagt Greenebaum. Dennoch sei er besorgt, denn wenn Kirchen eine speziell auf Juden zielende Missionararbeit finanziell unterstützen, behindere dies den interreligiösen Dialog. Andere sehen mehr Grund zur Beunruhigung. »Die Judenmission ist keine existenzielle Bedrohung für die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft«, sagt Rabbiner Craig Miller, Bildungsdirektor der Arbeitsgruppe »Antimissionierung« beim Jewish Community Relations Council in New York. »Aber sie schadet einzelnen Juden. Der Verlust jedes jüdischen Menschen ist für Familie und Freunde eine Tragödie; es bedeutet auch den Verlust der Kreativität dieses Menschen und seines Beitrags zur jüdischen Gemeinschaft als Ganzes.«
»Ich betrachte die Missionsbemühungen als eine Art Frühwarnsystem«, sagt Jonathan Sarna, Professor für amerikanisch-jüdische Geschichte an der Brandeis-Uni- versität. »Wenn man wissen möchte, wo in den jüdischen Gemeinden die Schwachpunkte liegen, muss man dorthin schauen, wo die Missionare sind. In letzter Zeit findet man sie vor allem unter Neueinwanderern, älteren Menschen und Studenten – alles Bereiche, wo die jüdische Gemeinde ihre Arbeit vernachlässigt hat.«
In Brighton Beach zum Beispiel, wo sich in den vergangenen Jahrzehnten viele Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ansiedelten, ist das Russian Community Life Center zu einem Brennpunkt der Mission geworden. An einem Samstagvormittag sehen 60 Einwanderer auf schwarzen Klappstühlen Leslie McMillan, der Leiterin des Zentrums, dabei zu, wie sie ein Kopftuch aufsetzt und zwei Schabbatkerzen anzündet. Sie spricht den traditionellen hebräischen Segen – mit einem Zusatz: »B’schem Jeschua«, auf Deutsch: »Im Namen Jesu«. Die Schabbatkerzen, erklärt ein Leiter des Gottesdienstes auf Russisch, »sind wie ein Symbol für das Licht Jesu Christi, unseres Erlösers«.
Für die Evangelikalen haben sich die russischen Juden als besonders empfänglich erwiesen. Das Leben unter einer Regierung, die jegliche Religionsausübung unterdrückte, hat wenig Vorwissen übrig gelassen. »Für Generationen war Religion eine verbotene Frucht«, sagt Eugene Lubman, ein 31-jähriger Programmierer aus Kiew, der als Vizepräsident im Vorstand des Zentrums sitzt. »Es gab einen spirituellen Hunger, eine Ahnung, dass die Dinge auf Erden nicht um ihrer selbst willen geschehen.« Lubman glaubt, dass die messianischen Gemeinden Einwanderer eher willkommen heißen als viele religiöse Juden. Ein Umstand, der vor allem psychisch instabile Menschen in die Arme der christlichen Seelenfänger treibt.
von Hannes Stein
Jews for Jesus? Das ist eine Selbstbezeichnung, die Ruth Guggenheim nicht akzeptiert. Denn die »Jesusjuden« mögen zwar Gebetskäppchen aufsetzen, sich rituelle Schals mit Schaufäden überwerfen, ihre Gottesdienste am Samstag statt am Sonntag abhalten – aber sie nennen den Zimmermannssohn aus Nazareth nun einmal »Jeschua Ha-Maschiach«, auf gut deutsch: Jesus Christus. Und damit sind sie Christen. Die »Jews for Jesus« behaupten freilich, sie seien »komplettierte Juden« (»fulfilled Jews«), vollständig, weil sie ihren Heiland gefunden haben. Ruth Guggenheim sagt: »Nein, ihr seid ›hebräische Christen‹ – jüdisch nur noch der Herkunft, aber nicht mehr der Religion nach.« Sie setzt sich dafür ein, den »hebräischen Christengemeinden« mit theologischen Argumenten entgegenzutreten.
Guggenheim leitet in Baltimore das Zentrum der Bewegung »Jews for Judaism«, die 1983 gegründet wurde; weitere Büros gibt es in Los Angeles, Toronto und Johannesburg, und gerade jetzt soll ein weiteres Zentrum in Jerusalem eröffnet werden. 130 »hebräische Christengemeinden« gebe es im jüdischen Staat, und leider erfreuten sie sich unter Israelis großer Beliebtheit.
Das Hauptbetätigungsfeld für »Jews for Judaism« aber ist ohne Zweifel Nordamerika. Ruth Guggenheim nennt ein paar Zahlen. Dass es sich um Schätzungen handelt, räumt sie ein, aber diese über den Daumen gepeilten Zahlen reichen aus, um ein düsteres Bild ahnen zu lassen: Von den rund 5,5 Millionen Menschen jüdischer Abstammung, die heute in den USA leben, praktizieren etwa 1,4 Millionen eine andere Religion als das Judentum, die meisten von ihnen sind Christen. Bei einem Drittel dieser Christen jüdischer Herkunft handelt es sich – mit Ruth Guggenheim zu sprechen – um »hebräische Christen«.
Die Bewegung »Jews for Jesus« wurde in den siebziger Jahren von Moishe Rosen gegründet, der zwar einem religiösen Elternhaus entstammte, als Jugendlicher aber Atheist war. Später heiratete er eine Christin, konvertierte und wurde Pfarrer einer konservativen Baptistengemeinde. Die Baptisten aus den amerikanischen Südstaaten sind bis heute die Hauptunterstützer der »Jews for Jesus«. Sie betrachten die Bekehrung von Juden als eine ihrer vornehmsten Aufgaben. Ihrer Meinung nach wäre es Antisemitismus, die Juden nicht zu missionieren. Schließlich würde das bedeuten, ihnen die göttliche Liebe vorzuenthalten.
Wie erklärt sich Ruth Guggenheim die Magnetkraft, die von »Jews for Judaism« ausgeht? »Amerikanische Juden sind so leer«, sagt sie, »ich meine: im spirituellen Sinn. Es ist nicht möglich, eine Religion zu haben, die nur auf der intellektuellen Ebene funktioniert. Was die ›hebräischen Christengemeinden‹ anbieten, das ist genau die Wärme und Emotionalität, die bei uns fehlt.« Die Geheimwaffe der Christen, meint Guggenheim, sei ihre »bedingungslose Liebe«.
Nun könnte man behaupten, dass auf jüdischer Seite bereits eine Bewegung existiert, die die »Jesusjuden« mit ihren eigenen Waffen schlagen könnte: die Lubawitscher. Auch die breiten ja ihre Arme weit aus und heißen jeden Juden willkommen, der hineinläuft. Was unterscheidet »Jews for Judaism« also von Chabad? »Wir arbeiten mit allen jüdischen Konfessionen zusammen«, antwortet Ruth Guggenheim, »mit Reformgemeinden, mit Konservativen, mit Orthodoxen. Unsere Aufgabe ist jedoch nicht, Juden orthodox zu machen. Unsere Aufgabe besteht darin, Juden auf eine theologische Reise zu schicken. Wenn du am Ende dieser Reise den Schabbat einhältst und koscher lebst, gut und schön. Aber nicht für jeden ist der orthodoxe Lebensstil der richtige.« Ob »Jews for Judaism« sich als Konkurrenz zu den Lubawitschern versteht? »Ganz und gar nicht.«
»Jews for Judaism« ist eine Beratungsorganisation, es geht nicht immer darum, neue Mitglieder zu werben. Der Erfolg ist also in Zahlen kaum messbar. Immerhin lässt sich so viel sagen: 100.000 Juden auf der ganzen Welt bekommen regelmäßig Post von »Jews for Judaism«. Und sobald die »hebräischen Christen« eine ihrer Offensiven starten, dann hilft »Jews for Judaism« der örtlichen jüdischen Gemeinde, sich dagegen zu wehren. Es gibt zum Beispiel Ferienlager für jüdische College-Schüler, auf denen »Missionare« auftreten. Am Anfang sind nur die Veranstalter in die Tatsache eingeweiht, dass es sich in Wahrheit um Mitarbeiter von »Jews for Judaism« handelt. Sie bringen den Kids bei, wie man den christlichen Seelenfängern nicht ins Netz geht.
Und was ist mit den waschechten Christen, die auch so genannt werden wollen? Gibt es mit denen einen Dialog? Es kam sogar schon zu Begegnungen mit Baptistenpfarrern. Die glauben zwar weiterhin, dass sie Juden zum Glauben an Jesus als den endgültigen Welterlöser bekehren müssen. Als man ihnen aber Videos vorführte, auf denen dokumentiert wurde, welcher Methoden sich die »Jews for Jesus« dabei bedienen, sagten jene Baptisten, so Ruth Guggenheim, Betrug könne ja wohl nicht Gottes Wille sein.