von Rabbiner Joel Berger
Der Wochenabschnitt, den wir an diesem Schabbat lesen, ist der einzige, der die Jitzchak-Geschichte eingehender ausführt. Die Berichte über die anderen Erzväter werden in der Tora in mehreren Wochenabschnitten behandelt. Mit Abraham befassen sich drei Paraschijot, mit Jakob sogar sechs. Dies scheint betonen zu wollen, dass Abraham unser ewiges Ideal ist, Jakob dagegen das Vor-Bild, die Präfiguration, des wechselvollen jüdischen Schicksals. In dieser Parascha zeigt die Tora die Standhaftigkeit Jitzchaks und den Wandel der Zeit von Abraham bis Jakob. Jitzchaks Söhne Jakob und Esau verkörpern mit ihrer Einstellung und Anschauung zwei unterschiedliche Welten.
Es scheint, dass der Vater, der Patriarch, gar nicht weiß, wie gegensätzlich seine Söhne sind. Als einen gutmütigen, ein wenig naiven Mann erleben wir Jitzchak in dieser Parascha. Hinzu kommt, dass seine Sehkraft stark nachgelassen hat. So ist es nicht verwunderlich, dass es seiner Frau Riwka gelingt, durch eine Täuschung den väterlichen Segen für ihren Günstling Jakob zu erlangen. Auf Geheiß der Mutter gelingt es ihm, den Vater zu überlisten, um dessen Segen zu erhalten.
Zum besseren Verständnis dieses Toraabschnitts sowie Riwkas Handlungsweise gehören das Wissen über den Segen und die Verwünschung. Wie wurden diese beiden in der biblischen und auch in der nachbiblischen jüdischen Welt verstanden? Ein Segen, den ein Familienoberhaupt aus besonderen Anlässen sprach, besaß in der Familie, der Sippe, besonderes Gewicht. Jeder glaubte nicht nur an die Wahrhaftigkeit des Segens oder einer Verwünschung, sondern man war überzeugt, dass die gesprochenen Worte in Erfüllung gehen und Wirkung zeigen werden. Man nahm diese Worte des Segens (oder aber die des Fluches) in dem Bewusstsein auf, dass sie das künftige Leben und das Wohlergehen der Gesegneten (oder Verfluchten) entscheidend beeinflussen und bestimmen werden. Die Patriarchen, die die Segensworte aussprachen – in der Regel der Vater oder der Stammesälteste – waren wie die Priester der Heiligtümer in späteren Epochen. Ihre Rolle ging Hand in Hand mit den Rechten der Erstgeborenen der jeweiligen Familien.
In der patriarchalen Gesellschaft des Mittelmeerraums übernahm gewöhnlich der Erstgeborene die priesterlichen Aufgaben, und bei der Aufteilung der väterlichen Erbschaft gebührte ihm ein doppelter Anteil. In diesem patriarchalen Milieu war es üblich, dass das Familienoberhaupt, wenn es seinen Tod nahe glaubte, die Mitglieder der Familie um sich versammelte und sein Erbe sowie seinen Segen den Nachfahren zuteil werden ließ.
Dass die Tora anders mit dem Patriarchat umging, als es in anderen Gesellschaften im Mittelmeerraum üblich war, zeigt dieser Wochenabschnitt: Riwka unterläuft Jitzchaks Absicht und lässt den väterlichen Segen an ihren geliebten Sohn Jakob übertragen.
Unsere Weisen führen aus, dass Jakob gebildeter war als sein Bruder, der raue Jäger Esau. Vielleicht beneidete der einfältige Esau seinen Bruder, und mit der Zeit entstand aus seinem Gefühl der Minderwertigkeit auch Hass. Den Grund, warum Jitzchak Esau liebte, erfahren wir nicht. Die Tora bemerkt nur: »ki zajid befiw« (»denn Wildbret war in seinem Mund«, 1. Buch Moses 25,28). Das könnte so übertragen werden, dass Esau nur von der Jagd redete, weil er zu nichts anderem einen Bezug hatte. Vielleicht weckte dies im Vater zärtliche Gefühle. Aber was das Schicksal seines Sohnes betrifft, konnte er sich seiner Frau gegenüber nicht durchsetzen. Ansonsten wissen wir von Jitzchak weniger als von dessen Vater Abraham oder von seinem Sohn Jakob.
Jitzchak hat das Heilige Land nie verlassen, er war ein fleißiger und tüchtiger Landwirt, der auf diesem Gebiet beachtenswerte Ergebnisse erzielte. »Er besaß Schaf- und Rinderherden …, sodass die Philister ihn beneideten«, erzählt die Tora (1. Buch Moses 26,14). Aus purem Neid hatten diese alle Brunnen zugeschüttet, die in den Tagen
Abrahams ausgehoben worden waren (26,15). Doch das war nicht nur eine Provokation – in dieser trockenen Region bedeutet dies beinahe Mord. Selbst Awimelech, der Herrscher der Philister, legt Jitztchak nahe: »Ziehe von uns weg, denn du bist uns viel zu mächtig geworden.« (28,16). Warum dachte dies der König? Die Philister waren doch nicht ärmer und ihre Landwirtschaft war ebenso gut entwickelt wie die von Jitzchak. Ein Fremder erscheint uns manchmal geschäftstüchtiger und reicher, auch wenn dies objektiv gar nicht der Fall ist. Darin liegt eine der Wurzeln der Fremdenfeindlichkeit.
Die Rabbinen verwenden die Erzählung in dieser Parascha, um uns auf die gefährliche Eskalation des Hasses aufmerksam zu machen: Sie zitieren Esau, der sich nach Jitzchaks Tod an Jakob rächen und ihn umbringen wollte. Damit sollte auch Jitzchaks Nachkommenschaft eliminiert werden.
Im weiteren Verlauf unserer Geschichte, im 2. Buch Moses ist es aufgeschrieben, begegnen wir dem Pharao des alten Ägypten, der noch radikaler handelte: Er wollte alle Knaben der Israeliten ertränken lassen. Haman, der Bösewicht aus dem Esther-Buch ging noch einen Schritt weiter: Er wollte das ganze Volk vernichten. Bedeutet der Fortschritt der Menschen nur die Vervollkommnung der Mordmethoden? Es sieht ganz so aus. Und dennoch heißt uns die Tora: zu hoffen.
Der 9. November ist ein bleibender Gedenktag, den wir schmerzlich begehen. Im Jahre 1938 brannten unsere Synagogen, und jüdische Geschäfte wurden demoliert. Das hemmungslose Morden nahm hier seinen Anfang. Dieser Auftakt zur Schoa lässt uns jedes Jahr erzittern und wehmütig der Opfer gedenken. Der 9. November verpflichtet uns, der Jugend die Lehren aus dem Schrecken weiterzugeben.
Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.