von Rabbiner Joel Berger
Am Anfang der Parascha lesen wir über die Zeremonien des priesterlichen Jom- Kippur-Gottesdienstes im Stiftzelt – Bet Hamikdasch. Unter den Handlungen, die der Kohen in der Tempelzeit vorzunehmen hatte, steht geschrieben: »Und Aaron stütze seine beiden Hände auf den Kopf des lebendigen Bockes und bekenne über ihm alle Verschuldungen der Kinder Israels und alle ihre Untaten in allen ihren Sünden. Und er lege sie auf den Kopf des Bockes und schicke ihn durch einen bereitstehenden Mann fort in die Wüste.« (3. Buch Moses 16, 21)
Aaron legte seine Hände auf den Bock und ein Sündenbekenntnis vernehmen ließ. Als ob er die Verfehlungen seines Volkes auf den Kopf des Bockes übertragen würde, bevor er ihn in die Wüste hinausjagte. Auf diese Weise wurde im Israel der biblischen Zeit bildhaft die »Entfernung der Sünden« verdeutlicht. Nach der Sklaverei in Ägypten hat dieses Ritual für jeden klar gemacht, daß die Sünde keine Übermacht über die Volksgemeinschaft hat. In späteren Zeiten genügte bereits die Erinnerung an diese priesterliche Zeremonie, um durch spirituelle Handlungen zur Reue der eigenen Verfehlungen zu gelangen.
Die zweite Hälfte unserer biblischen Lesung enthält den Kodex der jüdischen Ethik. Als wäre uns damit eine zweite Fas-sung der Zehn Gebote geschenkt. Im Kapitel 19 finden wir das Gebot der Nächstenliebe. Unter Nichtjuden wird dieses Gebot unserer Tora als »christliche Nächstenliebe« bezeichnet. Dieses Gebot ist weitverbreitet. Aber unseren Nächsten zu lieben, fällt uns immer noch schwer. Sehr wenige unter uns sind dazu fähig, sogar den besten Freund wie uns selbst zu lieben. Dies haben unsere Weisen schon sehr früh erkannt. Daher übersetzte es Jonathan ben Usiel später auch gleich ins Aramäische und erklärte dieses Gebot. »Liebe deinen Nächsten, und tue ihm nichts an, was du selber nicht erleiden möchtest.«
Jonathan war ein Schüler Hillels. Über ihn berichtet uns der Talmud, daß ihn einst ein Nichtjude aufsuchte. Er fragte, ob der Rabbiner ihn über die wesentlichen Inhalte des Judeseins aufklären könne – während er auf einem Fuß zu stehen vermag! Der Mann kam soeben von dem anderen Gelehrten – Schammaj. Dieser war nicht gerade wegen seiner Toleranz geschätzt und hatte den vermeintlichen Spaßvogel kur-zerhand hinausgeworfen. Hillel dagegen war wegen seiner Duldsamkeit weithin bekannt und antwortete seinem Besucher: »Die Grundlage des Judentums ist die Nächstenliebe. Was dir nicht angenehm ist, tue einem anderen auch nicht an. Das ist die ganze Tora! Alles andere ist nur Kommentar. Gehe hin und lerne!«
Der aus Posen stammende Talmud-Gelehrte Samuel Edels hat nachgefragt, wes-halb wohl Hillel seine Erläuterung in negierender Form ausgedrückt hatte – »tue das nicht«. Warum wählte er nicht lieber die direkte Aussage: Was dir angenehm, laß auch deinem Freunde angedeihen? Edels kommt zu folgendem Schluß: Man könne sich eher vor einer Tat zurückhalten, die man selber ungern hinnehmen würde. Dadurch, das man seinem Nächsten keinen Schaden zufügt, findet man leichter die Gemeinsamkeiten zwischen Menschen. Dies läßt sich nicht leicht ins Gegenteil umkehren. Zum Beispiel ist man nach jüdischem Recht nicht verpflichtet, sein Leben zu opfern, um das Leben seines Nächsten zu retten. Der Talmud bringt ein extremes Lehrbeispiel: Wenn zwei Menschen in der Wüste sind und hätten nur eine Flasche Wasser, so könnte sich keiner von beiden retten, weil ihnen die geringe Menge des Wassers keine Überlebenschancen sichern würde. Aber wenn nur einer von ihnen, nämlich der Besitzer der Flasche, die ganze Menge zu sich nähme, könnte er sich retten. Ein Gelehrter war der Meinung, es wäre besser, wenn beide etwas trinken und sterben, damit einer den anderen nicht dem Tod überläßt. Aber Rabbi Akiba lehrte es anders. In so einer extremen Lage ist jeder verpflichtet, für sich zu sorgen. Dein eigenes Leben muß in diesem Fall Vorrang haben. An dieser Stelle lernen wir Rabbi Akiba als Vertreter des Pragmatismus kennen. Er wollte von seinen Schülern nicht sinnlose Heldentaten oder Opferung verlangen. Und von uns wird es auch nicht verlangt. Als Menschen sollen wir einander respektieren. »Was dir nicht angenehm ist, tue einem anderen auch nicht an« ist eine vernünftige Regel für unser Leben.
Achare Mot-Kedoschim: 3. Buch Moses 16,1 - 20,27