von Rabbiner Andreas Nachama
Seit dem Fall der Mauer beziehungsweise des Eisernen Vorhangs und dem damit einhergehenden Exitus der sich selbst als sozialistisch definierenden Kommando-
wirtschaft fehlt bei allen Tarifverhandlungen, aber auch bei allen wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Entscheidungen der moralische Druck des imaginären »Genossen von drüben«. Die Errungenschaften einer »sozialen« Marktwirtschaft, die im Wettstreit der Systeme mit dem angeblich »real existierenden« Sozialis-
mus in Konkurrenz stand, müssen nicht mehr dargestellt werden, sondern werden in der Globalisierungskampagne für eine für legitim gehaltene Umverteilung von unten nach oben als »zu teurer Standortfaktor« diskreditiert. Nach dem Wegfall des »real existierenden Sozialismus« stellt sich die von den auf Profitmaximierung ausgerichteten Wirtschaftswissenschaften kaum beachtete von Karl Marx aufgeworfene Frage, ob der Kapitalismus an der eigenen Dynamik zugrunde gehen wird, erneut.
Wir werden gerade Zeuge, wie ein global agierender Handy-Hersteller nach großzügiger Inanspruchnahme staatlicher Förderungsgelder zur Einrichtung von Ar-
beitsplätzen, nachdem nun die Produktionsanlagen vernutzt sind und erneuert werden müssten, seine Produktion dorthin verlegt, wo er wahrscheinlich mit an-
deren staatlichen Förderungsprogrammen für den Aufbau der Produktionsanlagen bei möglicherweise niedrigeren Löhnen seine Profite gegenüber dem jetzigen Standort weiter maximieren kann. Möglicherweise können Produktionsabbau hier und der Neuaufbau andernorts noch als »Verluste« steuerlich abgesetzt werden. In einer Eigentumsbesitzgesellschaft ist das ein systemimmanent logisches und rechtlich legitimes Vorgehen, können doch die Anteilseigner von ihrem Aufsichtsrat er-
warten, dass ihr eingesetztes Geld maximal akkumuliert wird.
Gibt es unter solchen Bedingungen eine (jüdische) Ethik des wirtschaftlichen Handelns oder entwickelt sich in dem globalen Dorf (»Global Village«), das mangels durchsetzbarer rechtlicher Rahmenbedingungen der Vereinten Nationen oder anderer weltumfassender Organisationen, einen nahezu rechtslosen Freiraum geschaffen hat, dafür jede Grundlage?
Früher hatte man die Frage gestellt, ist das gut für die »Jidden« oder schlecht. Der Historiker könnte darauf antworten, dass es den Verursachern sozialer Missstände vom Mittelalter bis in die Schlussphase der Weimarer Republik gelungen ist, nach dem Prinzip »Haltet den Dieb« von ihnen selbst verursachte soziale Missstände Ju-
den anzuheften.
Worauf könnte eine jüdische Wirtschaftsethik basieren? Die hebräische Bi-
bel geht davon aus, dass Gott den Menschen die Erde geschenkt hat, einerseits mit der Maßgabe »im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot verzehren« (1. Buch Moses 3,19), andererseits mit dem Hinweis, dass Gott den Menschen segnen wird, wenn er einen sozialen Ausgleich herstellt (5. Buch Moses 15,10). Nicht Be-
sitztum wird als sträflich bezeichnet, sondern der egoistische Missbrauch, der Me-
chanismen der Verarmung in Gang setzt. Die Propheten sind eindeutig und klar in ihren Klagen über die Mechanismen der Ausbeutung und Verarmung: »Wehe je-
nen, die Satzungen geben voll Unheil und bedrückende Vorschriften niederschreiben! Sie verdrängen die Armen vom Ge-
richt und rauben den Elenden meines Volkes ihr Recht; so werden Witwen ihnen zur Beute, und Waisenkinder plündern sie aus« (Jesaja 10,1).
Die Rabbiner des Talmud (Berachot 58a) haben den zu ihrer Zeit ablesbaren Globalisierungsprozess und die Segnungen, die für den Einzelnen davon ausgingen, trefflich beschrieben: »Wie viel Mühe hatte der erste Mensch Adam, bis er Brot zum Essen erhielt! Er pflügte, mähte, band Garben, drosch, würfelte, siebte, mahlte, beutelte, knetete und buk, dann erst aß er; […] alle Völker […] kommen zur Tür meines Hauses, und wenn ich morgens aufstehe, finde dies alles zubereitet.« Aber sie haben auch die Kehrseite gesehen: »Reb Jehuda schwärmt über den römischen Staat ›Wie schön sind die Werke dieser Nation, denn sie haben Straßen angelegt, Brücken und Bäder gebaut‹«. Rabbi Schimon Barjochai hingegen klagt: »Alles, was sie errichtet ha-
ben, geschah nur in ihrem eigenen Interesse. Sie haben Straßen gebaut, um da Hu-
ren hinzustellen, Bäder, um sich zu verzärteln, Brücken gebaut, um Zoll zu erheben.« Jüdische Ethik fordert nichts um der Sa-
che selbst willen zu tun, sondern um diese Gesellschaft, diesen Kontinent, ja dieser Erde durch unser Zutun etwas besser zu machen, um so schlussendlich Gott zu dienen.
So springt man jedoch im Fall des hier die Debatte auslösenden Handy-Herstellers zu kurz, wenn man allein für die Erhaltung des in Deutschland gelegenen Standortes und gegen andere auch neue Standorte argumentiert, denn dann rechnet man die Nichtbeschäftigung der einen gegen die Nichtbeschäftigung der anderen auf. Ein Blick auf die gigantischen Gewinne des Handy-Herstellers zeigt aber deutlich, dass es hier genügend Spielraum für Investitionen auch an anderen Standorten als dem in Deutschland gelegenen gäbe.
Sollte jedoch die Forderung nach sozialem Ausgleich ungehört verpuffen, so wird der Anweisung der Tora gemäß von Zeit zu Zeit die verhängnisvolle Spirale des zunehmenden Ärmerwerdens durch Schabbatjahre und Jubeljahre durchbrochen: Sklavenfreilassung im Siebenten Jahr, Brache der Äcker stellen Erholungsjahre für Mensch, Land und Tier dar. Das alle 50 Jahre geplante Jubeljahr sollte realisieren, dass das Land tatsächlich Gott gehöre und dem Menschen nur auf Zeit überlassen ist.
Aus der Geschichte wissen wir, dass Revolten oder Revolutionen aus der übermäßigen Reichstumsakkumulation einerseits sowie der übermäßigen Ausbeutung oder sozialen Entrechtung andererseits hervorgerufen wurden.
Jüdisches Denken sollte sich selbst so ernst nehmen und so auftreten, wie früher der imaginäre »Genosse von drüben«: soziale Gerechtigkeit ist auch eine Konsequenz aus den Bedingungen für ein »Nie wieder!«, dass sich die Überlebenden der Schoa geschworen haben. »Wer Unrecht sät, der wird Unheil ernten« (Sprüche Salomos 22,8). Im Sinn der Tora ist es also einerseits eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Spirale des Verarmens zu durchbrechen und andererseits Aufgabe des Individuums, durch die dann später von den Rabbinern abgeleitete Gerechtigkeitsausgleichsgabe »Zedakka« individuellen Ausgleich zu schaffen. »Denn um einer solchen Tat willen wird der Ewige, dein Gott, dich segnen bei allem Tun und bei allem, was deine Hand ergreift« (5. Buch Moses 15,10). Und wenn das einem Handyhersteller alles zu kompliziert ist, dann sei ihm empfohlen: »Liebe deine Mitarbeiter wie dich selbst!«
Der Autor ist Professor am Touro College Berlin/New York und Rabbiner der Synagogengemeinde Sukkat Schalom in Berlin