von Gabriele Lesser
»Der Tag war so schön, die Sonne schien, der Himmel war herrlich blau – und wir fuhren mit dem Zug nach Auschwitz!« Die 17-jährige Gymnasiastin Sandra Kühnel fährt sich unwillkürlich mit der Hand über den Mund. Sie stockt, als überlege sie, ob sie weiterreden solle. »Ich öffnete das Zugfenster und versuchte mir vorzustellen, wie vor 60 Jahren eine solche Fahrt für ein jüdisches Mädchen in meinem Alter ausgesehen hätte – eingesperrt in einen Viehwaggon, ohne Wasser und Essen.« Die 15-jährige Anna Mäde mit den blauen Strähnchen im tiefschwarzen Haar fällt ihr ins Wort: »Wir fahren ja wieder zurück nach Hause. Aber für die Kinder damals? Die wussten ja noch gar nicht, was Auschwitz eigentlich war – der Bahnhof, die Rampe, Endstation Auschwitz.«
Anna und Sandra gehören zu den rund 100 Jugendlichen, die in Görlitz in den »Zug der Erinnerung« gestiegen sind. Sie wollten die letzte Strecke der »rollenden Ausstellung« über die Deportation von jüdischen Kindern und Jugendlichen in die Konzentrationslager mitfahren. In der Schule haben sie sich intensiv mit der NS-Zeit beschäftigt. »Aber das ist so weit weg. Man kann sich das nicht vorstellen. Wäre ich damals auch ein Opfer gewesen?«, fragt sich Anna. Doch Sandra fällt ihr ins Wort. Die beiden kennen sich aus Borna bei Leipzig, wo sie das Gymnasium »Am Breiten Teich« besuchen. Sandra ist allerdings schon zwei Klassen weiter. Im Leistungskurs Geschichte beschäftigt sie sich gerade mit dem Holocaust: »Die schwierigste Frage ist doch, ob man vielleicht selbst zum Täter geworden wäre, damals. Hätten wir der Propaganda geglaubt, wenn uns die Nazis erzählt hätten, dass wir selbst gute Arier sind, die anderen aber Untermenschen?« Es müssten viel mehr Leute mit so einem Zug fahren, sagt sie. »Und sich dann diese Ausstellungen in den Baracken ansehen. Die Schuhe, die Haare, die Koffer.«
Für sie selbst war am schlimmsten Block 11, der Todesblock. »Diese Nazis waren richtige Sadisten. Das war mir vorher nicht so klar. Dieses fiese Morden in Block 11? Das wusste ich nicht.« Tatsächlich wurden Häftlinge im Todesblock zu viert in sogenannte Stehzellen zusammengepfercht, andere saßen in Hunger- oder Dunkelzellen. Wenn die Zellentüren wieder geöffnet wurden, waren die meisten Insassen tot.
»Für mich war das Kinderzimmer am schrecklichsten«, sagt Anna. »Da waren ganz viele Fotos von Kindern in meinem Alter. So dünn, alle Knochen konnte man sehen. Und die großen traurigen Augen.« Die Fotos im »Zug der Erinnerung« sind ganz anders. Noch lachen die Kinder in die Kameras. Sie wissen nicht, was ihnen droht. Dass die meisten direkt nach der Ankunft in Auschwitz in die Gaskammern geschickt wurden, oft zusammen mit ihren Müttern, ist gut dokumentiert. Weniger bekannt ist den deutschen Gymnasiastinnen, dass SS-Ärzte sich gerne auch Kinder für ihre medizinischen Experimente aussuchten.
»Wir haben auf der Zugfahrt Briefe geschrieben, Bilder gemalt und Collagen geklebt«, erzählt Sandra. Sie holt ihren Brief hervor, der an niemanden gerichtet ist. »Es ist eine Art Selbstgespräch.« Eine der Betreuerinnen der rund 100 Jugendlichen verteilt goße weiße Papierbögen und glänzende Bänder. Darin rollt jeder sein Werk ein und bindet es sorgfältig zu. »Wir legen sie in Birkenau nieder.«
Anna nickt. Sie hat einen Brief in schwarzer Tinte und Schönschrift geschrieben. »An wen, sage ich nicht.« Vor der Gedenkfeier in Birkenau hat sie Angst: »Wer weiß, was da für Gefühle hochkommen?« Sandra legt ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »Wir werden auch einen Zeitzeugen treffen. Einen Überlebenden. Vor dem sollten wir keine Angst haben. Eher neugierig sein.«
Nach ihrer Rückkehr wollen Anna und Sandra etwas verändern in ihrer Stadt. Vor der Zugfahrt suchten sie nach jüdischen Spuren in Borna. Sie fanden vier jüdische Familien, deren Spuren sich allesamt in Ghettos und Konzentrationslagern verloren. Wenigstens ein paar Stolpersteine sollte es geben, in Borna. In Erinnerung an die jüdischen Kinder und ihre Eltern. »Den Text haben wir uns noch nicht überlegt«, sagt Anna. »Bei einem wissen wir, wo er umkam: Endstation Auschwitz.«