von Olaf Glöckner
Knapp 100 Kilometer nordöstlich von Berlin, in der wald- und wasserreichen Schorfheide, tickt das Leben noch geruhsam. Alles ist fest in der Hand von Naturschützern, Wassersportlern und Freizeitradlern, ein idealer Platz zum Abschalten und Ausschlafen. Genau dafür aber fanden die 300 Teilnehmer von »Limmud 2008«, die sich vergangenes Wochenende in der »Europäischen Jugenderholungs- und Begegnungsstätte« am Werbellinsee trafen, keine Zeit. Vielmehr jagten Referenten und Hörer, Künstler und Intellektuelle, Rabbiner und Laien von Workshop zu Workshop, lauschten, diskutierten und sangen bis in die Morgenstunden. Kaum jemand störte sich am verblassten Ost-Charme der Tagungsräume – inklusive einer alten Schüler-Turnhalle als Hauptsaal, bis 1989 bekannt als »Pionierrepublik Wilhelm Pieck«. Ein Endlos-Komplex im Wald hinter Eberswalde, wo der unbedarfte Besucher sich zwischen verrottenden Funktionsbauten, besprühten Turnhallen und ein paar bür- gerlichen Zweckbauten die Tagdepression gleich gratis abholen könnte. Selbst »last-minute«-Änderungen im Tagungsprogramm nahm man gelassen hin. Alles was zählte, waren Inspiration und Improvisation.
Projekte von »Limmud« – hebräisch: »Lernen« und »Lehren« – gibt es im Herkunftsland Großbritannien schon seit drei Jahrzehnten. Die Idee der Gründer ist einfach und erfrischend zugleich: Einmal pro Jahr einen Ort zu finden, an dem sich Juden zu den denkbar verschiedensten Themen und Inhalten austauschen können – zwanglos, tolerant, ohne Polemik und persönliche Ambitionen. Das Ziel sind gegenseitige Lernprozesse, wobei sich die Grenzen zwischen Referenten und Publikum nahezu verwischen.
»Limmud Deutschland« hat sich vor rund zwei Jahren formiert und wird unter anderen von United Jewish Appeal (UJA), der Pincus Foundation und dem Zentralrat der Juden in Deutschland unterstützt. Ähnlich wie im Mai 2007 in München, hatten die ehrenamtlich arbeitenden »Limmudniks« in diesem Jahr auch am Werbellinsee ein beachtlich buntes Programm kreiert. Der Fantasie der Workshopleiter seien kaum Grenzen gesetzt, »überraschen Sie mit einem Format, an das noch keiner gedacht hat, einem das es noch nicht gab«, warben sie um Ideen. Nur die Zeit blieb beschränkt. Länger als 70 Minuten sollte kein Workshop dauern. So gab es dann Seminare zu »Hilfe für Darfur«, »Islamisch-jüdischer Dialog« »Schamanismus im Judentum«, Kontroversen Hillel-Schammai, Geschichten von Maxim Biller, »Öko-Kaschrut« und »Beispiele jüdischer Sexualität in Tora, Talmud und Midrasch«. Oft liefen drei Veranstaltungen parallel, was Langerweile entschieden vorbaute, für manche aber auch die berühmte »Qual der Wahl« bedeutete. Koscheres Essen stand in den wenigen Pausen jederzeit bereit.
Auch überregionale Themen waren angesagt, wobei nicht alles den Nerv des Publikums traf. So schleppte sich die Podiumsdiskussion über »Einwanderung und Integration« eher mühselig durch den grauen Sonntagvormittag. Lebendiger wurde es erst, als Sonja Guentner von »Gescher LaMassoret« aus Köln und der Internationalen Friedensschule Köln, die israelisch-russische Psychologin Natalja Slobodjanik, Philanthrop Felix Posen, Professor Micha Brumlik und Berlins Chabad-Rabbiner Yehuda Teichtal über jüdische Bildungsarbeit in Deutschland debattierten. Felix Posen, Gründer einer »Stiftung für das Studium des säkularen Judentums« in Luzern, beklagte die Diskrepanz zwischen jüdischem Selbstbewusstsein und jüdischem Wissen – vor allem bei jungen Leuten. Fast unisono bemerkten Micha Brumlik und Yehuda Teichtal, dass diesem Dilemma nicht allein durch säkulare Bildungsinhalte beizukommen sei. »Chaim Nachman Bialik und Zeruya Shalev sind nicht zu verstehen, wenn man keine Kenntnisse über den Tanach hat«, betonte Brumlik, der große Chancen in der Pädagogen- und Rabbinerausbildung an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg und am Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam sieht.
Sophie Mahlo, der Vorsitzenden von Limmud Deutschland, stand nach drei turbulenten Tagen die Freude im Gesicht: »Wir hatten sehr positive Rückmeldungen, und wir hoffen, dass die Impulse des Treffens noch jahrelang nachwirken.«