von Harald Loch
Vom neuen Berliner Bahnhof Südkreuz bis Leipzig dauert die Zugfahrt nur noch eine Stunde. Und im Hauptbahnhof der Messestadt beginnt bereits die Buchmesse: In der Westhalle (!) liest Hans-Dieter Schütt aus seinen Letzten Gesprächen mit dem im November 2006 verstorbenen legendären DDR-Geheimdienstchef Markus Wolf (Das Neue Berlin). Dem Sohn des jüdischen Arztes und Dramatikers Friedrich Wolf und Bruder des Filmregisseurs Konrad Wolf war einst aus berufenem israelischen Munde das Prädikat des besten Geheimdienstchefs der Welt verliehen worden. Durchschnittsalter des zahlreichen Publikums: geschätzte 75 Jahre.
Zur gleichen Zeit erhalten auf dem Messegelände außerhalb der Stadt Michail Ryklin und Gerd Koenen den Preis der europäischen Verständigung. Ryklin beschreibt in seiner bei Suhrkamp erschienen Prozessreportage Mit dem Recht des Stärkeren die neue antisemitische Achse zwischen dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB und der orthodoxen Kirche. Ganz anders stellt zwei Tage später Julia Belomlinskaja aus Sankt Petersburg die Lage in ihrem Land dar. In der Alten Nikolaikirche liest sie aus ihrem deutsch bei Matthes & Seitz verlegten Roman Apfel, Huhn und Puschkin, einer autobiografischen Emigrations- und Remigrationsgeschichte Russland – USA und ernüchtert wieder zurück. »Wir leben in Russland in beschränkter Demokratie und Freiheit, und das ist für die Entwicklung einer jungen demokratischen Gesellschaft wie der russischen gut und richtig«, meint die jüdische Schriftstellerin und Sängerin. »Die Regierung Putin stellt sich zudem den ausländerfeindlichen Strömungen klar entgegen, die in Russland in den 90er Jahren heftig zunahmen und die alle Minderheiten betreffen.« Liebe macht blind und Heimweh offenbar regierungstreu.
An den Ständen auf dem Messegelände trifft man Autoren, die ihre neuen Arbeiten präsentieren. Bei SchirmerGraf steht eine zufriedene Lena Gorelik, deren neues Buch Hochzeit in Jerusalem viel diskutiert wird. Die Verlage arbeiten derweil schon an ihren Herbstprogrammen. Martin Spieles von S. Fischer kündigt für Ende August das bereits in 28 Ländern erschienene Holocaust-Kinderbuch Der Junge im gestreiften Pyjama des irischen Autors John Boyne an, das in Irland als »Novel of the Year« ausgezeichnet wurde .
Wie immer finden die wichtigsten und interessantesten Gespräche nach Messeschluss statt. Am Donnerstagabend hat C.H. Beck zu Ehren von Saul Friedländer eingeladen, der drei Stunden zuvor für seine Studie Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Vernichtung 1939 – 1945 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch erhalten hat. Der weißhaarige Autor sitzt schräg gegenüber am Nachbartisch, beeindruckt seine Gesprächspartner mit klaren, funkelnden Augen. Friedländer wurde 1932 in Prag als Kind deutschsprachiger Juden geboren. Seine Eltern wurden ermordet, er selbst überlebte die Schoa in Frankreich unter falschem Namen versteckt in einem katholischen Internat. 1948 ging er nach Israel. Die Leipziger Auszeichnung für Friedländers 869 Seiten starkes Opus war erwartet worden; schließlich ist das Buch von der Fachkritik einhellig gelobt worden. Der Historiker Hans Mommsen beispielsweise sprach in der Frankfurter Rundschau von einem »epochalen« Werk und lobte insbesondere die Darstellungsform: Die historische Abhandlung wird bei Friedländer immer wieder unterbrochen durch persönliche Zeugnisse von Betroffenen, die dem millionenfachen Mord das »Abstrakte« nehmen, so Mommsen.
Zwei Tage später in der Deutschen Nationalbibliothek: Lenka Reinerová liest und muss sich ständiger Nachfragen erwehren, wie sie denn Kafka erlebt habe – dabei war sie erst acht Jahre alt, als er starb. Aber man traut der letzten deutsch schreibenden jüdischene Prager Schriftstellerin wie selbstverständlich zu, Kafka gekannt zu haben, wohl weil sie mit so vielen anderen Großen der Literatur vertraut war. In Das Geheimnis der nächsten Minuten (Aufbau) erzählt sie von einem Nachkriegsbesuch bei Brecht und Weigel am Schiffbauerdamm und vom Warten auf eine öffentliche Hinrichtung in Paris zusammen mit Egon Erwin Kisch. Lenka Reinerova ist 1916 geboren, als Prag noch eine k.u.k.-Metropole war, und liest an dem Tag, als in Berlin auch der Präsident der Tschechischen Republik 50 Jahre europäische Einigung feiert.