von Annette Wollenhaupt
Naomi Feil ist 72 Jahre alt, doch heute, im großen Saal des Jüdischen Altenzentrums im Frankfurter Ostend, spielt sie die Rolle einer 95-Jährigen, »die ihr Ich-Bewusstsein verloren hat«. Die ausgebildete Schauspielerin und Begründerin der Validation, eines Anfang der 60er-Jahre entwickelten Verfahrens im Umgang mit Demenzerkrankten, wimmert, ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. Feils Zuhörer arbeiten im Jüdischen Altenzentrum täglich mit dementen Bewohnern und beobachten die Frau aus den USA sehr genau, ihre Blicke verraten, dass ihnen das, was sie sehen und hören, unter die Haut geht. Dann verlässt Naomi Feil ihre Rolle, wird wieder zur Referentin. Sie geht auf die Altenpfleger zu, fragt sie nach ihren Gefühlen. Sagt, dass es wichtig sei, im Umgang mit Dementen »ehrlich zu sein mit den eigenen Gefühlen«. Sie rückt ihren Zuhörern auf den Leib, bedrängt sie, fordert sie, beleidigt sie, verletzt ihren Stolz, ihre Würde. Naomie Feil erzählt, wie unablässlich es sei, sich in solchen Situationen »zu zentrieren, wie ein leerer Topf zu werden«. Erst so sei Empathie möglich. Sie erzählt wie wichtig es sei, den Demenzkranken zu beobachten, sogar seinem Atmen Beachtung zu schenken. »Man geht auf diese Weise in den Schuhen des alten Menschen, lässt sich auf seine Welt und Realität ein.« Erneut schlüpft sie in eine Rolle, dieses Mal ist sie 90 Jahre alt und beschuldigt eine Krankenpflegerin, ihre wertvolle Porzellantänzerin kaputt gemacht zu haben. Sie giftet sie an, spricht die junge Frau auf ihren Ehering an. »Ich denke, Ihr Mann hat sie nicht lieb, denn ihr Ring ist sehr klein«. Ein Satz der sitzt, die anderen lachen. »Er hat«, sagt die Alte »vielleicht fünf Euro gekostet, ihr Mann hat ihn bestimmt bei Woolworth gekauft, wenn er heute Abend nach Hause kommt, sollten Sie ein billiges Parfum tragen, Sie Schlampe!«
Dann ist Naomi Feil wieder die Referentin und ihr Thema das, was an Demenz erkrankte Menschen anderen mitteilen. »Ärzte reden oft von schizophrenem Wortsalat«, dabei sind die Äußerungen Dementer sehr sinnvoll. Sie entstünden über Assoziationen. Eine Frau die »Healven, healven« schreit, rufe nach Hilfe. Sie denke an ihre Mutter, die bereits im Himmel sei. »Help« und »Heaven« verschmölzen zu »Healven«. In einem weit fortgeschrittenen Stadium der Demenz gewönnen außerdem sich immer wiederholende Bewegungen an Bedeutung. Bewegungen, die ein Mensch zum Beispiel in seinem Beruf ausgeübt hat.
Naomi Feil lässt einen Film laufen, gedreht hat ihn ihr Ehemann. Sie spielt eine altersverwirrte Frau. Nimmt eine Puppe, führt sie zu ihrer Brust, dann macht sie eine Handbewegung, so als ob sie eine Kuh melke. Naomi Feil spielt eine ehemalige Bäuerin. Erzählt, dass sie in allen ihren Rollen Menschen spiele, die so in der Wirklichkeit existiert haben. »Diese Menschen gab es wirklich und sie haben eines gemeinsam: sie waren in ihrem früheren Leben nie ehrlich mit ihren Emotionen«. Wenn starke Emotionen geschluckt werden, sagt Feil, »wachsen sie« und der alte Mensch muss sie »ausschütten können, um in Ruhe zu sterben«. Dann zeigt sie die Dokumentation einer ihrer frühen Gruppensitzungen mit Demenzerkrankten. Sie sagt einer alten Frau, die meint, ihre Eltern lebten noch, dass beide bereits tot seien, dann wieder, um sie abzulenken, dass »es ein wunderschöner Tag« sei. Die alte Frau wird wütend und sagt »Sie gehören erschossen und an der nächsten Laterne aufgehängt«. Und dass es schließlich ihre Eltern seien und nicht die der Therapeutin. Heute empfinde sich die einstige Gruppentherapeutin rückblickend als grausam. Naomi Feil betont, wie wichtig es sei, den Ton, den ein Erkrankter beim Erzählen anstimme, aufzugreifen, und sich auf dessen »bevorzugten Sinn« einzulassen. Schildere er Situationen über visuelle oder akustische Eindrücke, solle das Gegenüber versuchen, seine Sprache zu sprechen und es ihm gleich zu tun. Mittagspause.
Naomi Feil muss »unbedingt etwas essen«, ihre Vortragsart ist anstrengend. Doch ein paar Minuten bleiben für ein kurzes Gespräch. Ob denn eine Pflegekraft, die nie den Holocaust erlebt habe, »in die Schuhe« eines traumatisierten jüdischen Bewohners je schlüpfen könne, wird sie gefragt. »Doch, ich denke schon«, lautet ihre Antwort, »vielleicht wurde man ja als Kind einmal in den Schrank gesperrt oder der Bruder schmiss einen ins tiefe Wasser, sodass man das Grundgefühl großer Angst kennt«. Im Speisesaal wird gegessen und geplaudert. Auch Konstantin Ovchinski sitzt an einem der langen Tische. Der 59 Jahre alte Altenpfleger sagt: »Für uns Pfleger ist die Validation eine Erleichterung für das Leben«, man komme weniger erschöpft und ausgelaugt nach Hause, weil eine gelungene Kommunikation glücklich mache.
Es geht weiter. Naomi Feil schildert die Möglichkeiten, selbst mit apathisch in sich gekehrte Kranken in Kontakt zu treten. Sie liebkost im Rollenspiel, einer Mutter gleich, das Gesicht der jungen Pflegekraft Nasi. Singt ein deutsches Wiegenlied, in der Hoffnung, Nasi fühle sich geborgen und singe mit. Doch Nasi muss lachen: »Ich kenne kein deutsches Lied. Ich komme aus dem Iran«. Jetzt lachen alle, Naomi Feil lässt sich ein iranisches Gutenachtlied vorsingen, singt es nach. Ihr Appell an die Altenpfleger: »Diese Lieder müssen sie lernen und wenn Sie eine Chinesin betreuen, dann eben ein chinesisches«.
Ein weiterer kurzer Dokumentarfilm zeigt schließlich auf ganz besonders berührende Weise , wie die Begründerin der Validation eine schwerst erkrankte und verstummte Frau auf genau diese Weise zum Leben erweckt. Die Augen der alten Afroamerikanerin sind geschlossen, sie rührt sich nicht. Dann beginnt Naomi Feil, ihr dicht gegenübersitzend, einen Spiritual zu singen, nach wenigen Minuten klopft die alte Frau den Takt mit ihrer Hand auf Naomi Feils Schulter. Schließlich öffnet die Patientin ihre Augen und singt. Ein positives Beispiel am Ende des Workshops.
Heimleiter Leo Friedman plant eine Fortsetzung, neben Naomie Feil werde auch ihre Tochter Vicki de Clerk Workshops leiten. Dabei liegt Friedman viel daran, dass auch interessierte Mitarbeiter anderer jüdischen Altenpflegeheime in Deutschland dann die Möglichkeit zur Teilnahme haben.
Kontakt: Leo Friedman, Altenzentrum, Telefon (069) 40560-200