von Sabine Brandes
Granatapfel, frischer Fisch, süßer Honig und koscherer Wein. Für die meisten ist ein Feiertagsmahl zu Rosch Haschana ohne diese Köstlichkeiten unvorstellbar. Für jeden dritten Israeli indes ist es kaum machbar, auch nur einen einzigen Topf Honig zu beschaffen. An gute Äpfel zum Hineintunken oder außergewöhnliche Delikatessen ist schon gar nicht zu denken. Besonders Familien mit vielen Kindern laufen Gefahr, während der Feiertage mit knurrendem Magen um leere Tische zu sitzen. Vielen fehlt es einfach am nötigsten.
Die schwierige wirtschaftliche Situation vieler wird jedes Jahr zu den Hohen Feiertagen besonders deutlich, wenn es daran geht, neue Kleider, Geschenke und ausgesuchte Speisen für die Familie zu besorgen. Eine Umfrage unter 91 Wohlfahrtsorganisationen brachte jetzt ans Licht, daß in diesem Jahr so viele Familien wie nie zuvor um Hilfe für die Feiertage gebeten haben. Doch dabei geht es nicht um Feinschmeckereien. Viele können nicht einmal die grundlegenden Lebensmittel kaufen. 32 Prozent derjenigen, die um Unterstützung bitten, geben an, es fehle gar an Mitteln für Fisch und Fleisch. 18 Prozent können keinen Wein kaufen, und 14 Prozent werden sich ohne Honig »Schana towa u´metuka« wünschen.
Auch Familie Zanany aus Rischon Le-
Zion hat dieses Jahr in der Wohlfahrtsabteilung der Stadtverwaltung angefragt. Dabei haben die Zananys ein festes Einkommen. Vater Mosche ist Taxifahrer, Mutter Rahel verdient ab und zu als private Kinderfrau etwas dazu. »Es war das erste Mal«, erklärt Rahel Zanany sichtlich betrübt, »und einer der schwersten Schritte meines Lebens. Doch es ging einfach nicht anders, ich kann meinen sechs Kindern doch an Rosch Haschana keine Nudeln vorsetzen.« Als Grund für ihre finanzielle Not geben sie zwei Mieterhöhungen und die Kürzung des Kindergeldes an.
Die Hilfsorganisation »Latet« (hebräisch für Geben) spricht von einer echten Wohlfahrtskrise. Doch nicht nur zu Rosch Haschana und Sukkot benötigen die Menschen Unterstützung. Insgesamt sind die Israelis im Jahr 2006 ärmer als jemals zuvor. Der gerade veröffentlichte jährliche Bericht der nationalen Versicherungsanstalt (Bituach Leumi) zeigt einen dramatischen Anstieg der Armutsrate im jüdischen Staat: Im vergangenen Jahr allein schnellte die Zahl um fast 100.000 Menschen auf 24,7 Prozent. 1,6 Millionen gelten somit als arm. Die Grenze für diese Definition liegt für eine Einzelperson bei einem monatlichen Einkommen von umgerechnet 330 Euro, für eine vierköpfige Familie bei 850 Euro.
Als einen der entscheidenden Gründe geben Sozialexperten die drastischen Kürzungen beim Kindergeld an. Der damalige Ministerpräsident Ariel Sharon hatte sie 2000 beschlossen, sein Nachfolger Ehud Olmert weitergeführt. Bituach Leumi errechnete, daß diese Abzüge bei Großfamilien zu Einbußen von bis zu zwölf Prozent, bei Familien mit zwei Kindern von sechs Prozent geführt haben. Familien mit vielen Kindern, vor allem orthodoxe jüdische sowie arabische, trifft Armut immer häufiger: Während 2004 schon 54 Prozent von ihnen unter die Armutsgrenze schlitterten, waren es im letzten Jahr sogar 58 Prozent.
Und die Lagerräume der Hilfsorganisationen sind so gut wie leer. 38 Tage Krieg haben ihre Spuren hinterlassen. Nahezu 500.000 Menschen waren wochenlang Flüchtlinge, die tagtäglich auf die Hilfe anderer angewiesen waren. Ebenso versorgten zig Organisationen all jene Menschen, die unter Raketenbeschuß in Bunkern ausharrten, sowie die Soldaten und Reservisten an der Front. Allein »Schulchan L’Schulchan« (Von Tisch zu Tisch) lieferte mehr als 15.000 warme Mahlzeiten, 1.500 Pakete Windeln, 2.000 Kartons Babynahrung sowie Spielzeug und andere Dinge des täglichen Lebens in den Norden.
»Es ist das größte soziale Desaster seit Staatsgründung«, sagt Eran Weintraub, Geschäftsführer von »Latet«. Es sei ein wahrhaftes Versagen der Regierung, die ihre Bürger sowohl in normalen wie auch in Notfallzeiten allein lasse. Weintraub ist überzeugt, daß sich die Situation 2007 noch verschärfen werde, sofern die Politiker nicht eingreifen. »Wenn man sich die Situation anschaut und die Ergebnisse des Krieges im Norden mit einbezieht, gibt es keinen Zweifel, daß sich die Armut ohne einen Regierungsplan nur verschlimmern kann.« Die Feiertage werden schmerzvoll verdeutlichen, wie viele Familien allein von sich aus kein Essen auf die Tische bringen können und ganz auf die Wohltätigkeit anderer angewiesen sind.
Um dennoch ein würdiges Mahl zubereiten und den Duft von Gebratenem nicht nur durch die offenen Fenster anderer genießen zu können, stehen 10.000 Volontäre von »Latet« vor den Supermärkten des Landes. Sie bitten die Käufer beim Hineingehen, etwas mehr in ihren Wagen zu legen und dann an Bedürftige abzugeben. Noah Levy ist eine Freiwillige, die fleißig Reispackungen, Dosenfleisch und Honigkuchen in die weißen Pakete mit dem »Latet«-Aufdruck packt. 400.000 Familien will die Organisation damit erreichen. »Es ist einfach schrecklich, wenn ich daran denke, daß so viele Menschen, vor allem Kinder, in unserem eigenen Land nicht genug zu essen haben«, sagt Levy. »Doch ich bin froh, daß ich für sie sammeln und ihnen so wenigstens etwas Freude für das Neue Jahr bereiten kann.«