von Michael Borgstede
Vielleicht wäre es besser gewesen, einen Kollegen aus Jerusalem diesen Text schreiben zu lassen. Der wäre dann aus der hochheiligen, aber todlangweiligen Stadt ins aufregende Tel Aviv hinuntergefahren und hätte sich wahnsinnig amüsiert. Nicht mal die stundenlange Parkplatzsuche hätte seiner Begeisterung etwas anhaben können. Wahrscheinlich wäre er zunächst an den Strand gefahren, hätte sich zum Plätschern der Wellen ein Bier gegönnt und den Aktivitäten der diversen Yoga-, Feldenkrais- und Volkstanzgruppen zugeschaut. Dann wäre er die Schenkinstraße hinunterflaniert, hätte sich am Anblick all der schönen, spärlich be-
kleideten jungen Menschen erfreut und sich irgendwann – sicher nicht vor Mitternacht – ins aufregende Nachtleben dieser Stadt gestürzt. Er hätte einen der zahllosen Techno-Clubs besucht, in einer Pick-Up-Bar sein Glück versucht und vielleicht in einem total angesagten georgischen Restaurant unter einem Bild von Stalin einige Gläser importierten Wodkas in sich hineingeschüttet. Er hätte ein wunderbares, lebenssattes Porträt dieser 100 Jahre jungen Stadt schreiben können. Das Porträt einer sich kokett selbst feiernden Stadt, deren vergnügungssüchtige Bewohner Sex auf der Clubtoilette haben und den Rest ihres kleinen Landes für provinziell, langweilig, ja, irgendwie sogar entbehrlich halten. Einer Stadt, deren ungebändigte Lebenslust den Besucher sofort in ihren Bann zieht, deren hektische Aufgekratztheit, deren Rastlosigkeit aber auch etwas Aufgesetztes hat.
Diesen Text kann ich nicht schreiben. Das Porträt der »Stadt, die niemals schläft« werden andere übernehmen müssen. Denn mal ganz ehrlich: Wer braucht mit bald zwei kleinen Kindern eigentlich noch eine Stadt, die für schlaflose Nächte sorgt. Mein Tel Aviv ist heute ungefähr zwei Quadratkilometer groß. Es erstreckt sich vom Hundespielplatz auf dem Kikar Hamedina, wo man locker 150 Euro für ein Paar Babysandalen ausgeben kann, bis zu meinem Stammcafé an der Ecke Ibn Gvirol-Arolozoroff. Im Norden reicht es bis an den Yarkon-Park – aber eigentlich auch nur am Wochen-ende – und im Westen endet es nicht etwa am Meer, sondern schon beim Kindergarten an der Nordaustraße.
Vor einigen Wochen fanden wir uns unerwartet auf der Schenkinstraße wieder – ein Spaziergang im Jerusalemer Orthodoxenviertel Mea Schearim hätte sich nicht fremder anfühlen können. Wir gehören offiziell zu jener Gruppe Menschen, die statistisch gesehen die Stadt verlassen werden. Das erste Kind haben junge Familien in Tel Aviv, das zweite dann in irgendeinem Moschaw, wo man sich vielleicht etwas mehr als eine verfallene Zwei-Zimmer-Wohnung leisten kann. Wir sind Mainstream. Und doch fällt der Abschied nach mehr als fünf Jahren schwer.
Dabei gibt es viel, was man an Tel Aviv nicht mögen muss. Besucher dürfen die Stadt idealisieren. Wer hier eine Weile wohnt, weiß es besser. Da sind die Äußerlichkeiten: Tel Aviv, vom Dichter Nathan Altermann wegen der mehr als 4.000 Bauhaus-Gebäude auch die »Weiße Stadt« ge-
nannt, ist eigentlich eine graue Stadt. Die salzhaltige Luft und die Umweltverschmutzung setzen dem Beton zu, die verwitterten Jalousien überall helfen nichts. Keine elegant gerundeten Bauhaus-Balkone bestimmen das Stadtbild, sondern die Motoren der Klimaanlagen an den Außenmauern der Häuser. Eigentlich müsste man die Stadt zumindest einmal im Jahr komplett weiß anstreichen. Dann sind da die Dieselbusse, die dröhnend zu fast jeder Tages- und Nachtzeit durch die Straßen rasen. Es ist schwer zu glauben, dass ausgerechnet das Rathaus am Rabin-Platz, ein unvergleichliches architektonisches Scheusal, das Resultat eines Architekturwettbewerbs ist. Nein, Tel Aviv ist nicht schön, das kann wirklich niemand behaupten. Für deutsche Besucher ist der hinter den Hotels ver-
steckte Strand zwar unvergleichlich viel attraktiver als das heimische Pendant in Cuxhaven, doch der wahre Tel Aviver weiß, dass es nur 15-Autominuten entfernt noch schöner ist und man nicht um jeden Quadratmeter Liegeplatz kämpfen muss.
Die Bewohner erzählen den Besuchern immer gern, in Tel Aviv bliebe niemand lange allein. Die Menschen seien so offen, so freundlich. Und tatsächlich kommen blonde deutsche Studentinnen am Strand immer erstaunlich schnell ins Gespräch mit jungen israelischen Männern. Doch in Wahrheit ist Tel Aviv eine sehr einsame Stadt. Natürlich, die Cafés sind immer voll. Die Tel Aviver arbeiten viel, sie wollen sich auch viel vergnügen. Früher sei Tel Aviv ein Dorf gewesen, sagen die Alten. Jeder hätte jeden gekannt und immer alles über den anderen gewusst. Die Zeiten sind vorbei: Wie in jeder Metropole können auch in Tel Aviv Nachbarn nebeneinanderher leben, ohne mehr als ein paar freundliche Worte im Türrahmen gewechselt zu haben. Wer es dann gar nicht mehr aushält, schafft sich einen Hund an. Denn Hundebesitzer kommen leichter miteinander in Kontakt. Es gibt sehr viele Hunde in Tel Aviv
Meist folgt auf den Hund dann bald ein Kind. Das geht in Tel Aviv ganz gut. Man nimmt das Kind mit ins Café, Restaurant oder sogar ins Kino. Die Tel Aviver sind da sehr tolerant, Kindergebrüll stört hier niemanden. Auch auf den weißen Tischde-cken des 5-Sterne-Restaurants darf ein Dreikäsehoch ungestört mit Humus und Techi- na malen, ohne böse Blicke von den Nachbartischen oder der Bedienung zu ernten.
Tel Aviv ist schon tolerant: Jeder achte Bewohner der Stadt soll homosexuell sein – aus ganz Israel strömen sie nach Tel Aviv, weil hier geht, was in Israel sonst nicht wirklich akzeptiert ist. Tel Aviv ist die heimliche Hauptstadt des Landes, sie ist ihm aber gleichzeitig schrecklich fremd. Die Einheimischen sprechen davon, in einer »Blase« zu leben und sie sind durchaus stolz darauf.
Schon die demografische Mischung der Stadt ist einmalig: Das junge, feiernde Tel Aviv drängt sich in den Blick, aber wer sich auf den Straßen gut umschaut, wird auch zahlreiche ältere Menschen sehen, die auf den Parkbänken Zeitung lesen oder von asiatischen Pflegern im Rollstuhl durch die Gegend geschoben werden. Einige von ihnen haben ihr Leben lang in Tel Aviv gewohnt, sie erinnern sich noch gut daran, wie im Norden der Stadt, dort, wo sich heute meine zwei Quadratkilometer Tel Aviv befinden, vor 60 Jahren noch kaum ein Haus stand. Sie sind das Gedächtnis einer Stadt, die vor 100 Jahren mit der legendären Verlosung von 60 Grundstücken am Strand ihren Anfang fand. Wenn man heute dem Verkehrschaos auf den Straßen zuschaut, kann man sich nur schwer vorstellen, wie die Gründer damals stundenlang darüber debattierten, ob die Bordsteinkanten an den Kreuzungen abgerundet werden sollten oder eckig schöner wären. Eine europäisch geprägte Gartenstadt schwebte ihnen vor, trotz einiger Grünflächen hier und da ist daraus nichts geworden.
Der Besucher darf die Stadt idealisieren, wer hier wohnt, weiß es besser. Das ändert nichts daran, dass Tel Aviv ein Wunder ist. Kaum irgendwo fühlt man sich so lebendig wie hier. Irgendwann, vielleicht, wenn wir alt sind, werden auch wir wieder zurückkehren.