von Wolf Scheller
Das Exil war sein Schicksal, von dem er zeit seines Lebens nicht loskam. Hans Sahl, 1902 als Hans Salomon in Dresden geboren, gehörte zu jenen brillanten Intellektuellen jüdischer Herkunft, die bereits im geistigen Leben der Weimarer Republik eine Rolle spielten, vor den Nazis fliehen mussten und als ungeliebte Heimkehrer in der Bundesrepublik lange vergessen blieben. Erst in seinen letzten Lebensjahren, die er in Tübingen verbrachte, wo er vor 15 Jahren, am 27. April 1993, starb, wurde der fast erblindete Autor mit Preisen überschüttet, wurden seine Gedichte und Romane wieder aufgelegt.
Jetzt hat der Luchterhand-Verlag mit der Neuedition von Sahls Werken begonnen. Als Erste erscheinen die beiden spät entstandenen autobiografischen Texte Memoiren eines Moralisten (1983) und Das Exil im Exil (1990). Sahl erzählt darin von seiner weitgehend unbeschwerten Kindheit in Dresden und von den 2oer Jahren in Berlin, von seiner Karriere als Filmkritiker und Feuilletonist, die ihn mit den bekanntesten Protagonisten der damaligen Kulturszene in Berührung brachte. Doch die Tragik seiner Generation, die in die Turbulenzen von Wirtschaftskrise und Naziterror geriet, liegt wie Mehltau über diesen Erinnerungen.
Wir sind die Letzten hieß eine Sammlung seiner Gedichte, die 1941 erschien, in der sich der »Trödler des Unbegreiflichen« – so Sahl über sich selbst – als Moralist und Wahrheitsfanatiker von hohen Graden zu erkennen gab. Irdische Gerechtigkeit, individuelle Freiheit und historische Wahrheit gingen ihm über alles. Im amerikanischen Exil der dreißiger und vierziger Jahre verurteilte er die blutige Diktatur Stalins ebenso wie das Terrorregime der Nazis. Das machte ihn untragbar für Dichterkollegen wie Bertolt Brecht, Anna Seghers, und den »rasenden Reporter« Egon Erwin Kisch, dessen blödsinnige Bemerkung »Stalin denkt für uns« Sahl kopfschüttelnd zitiert. Sahl fand sich mit Alfred Döblin, Joseph Roth, Hermann Kesten und Walter Mehring schließlich auf der anderen Seite der Barrikaden wieder. In seinen Memoiren schreibt er nach dem Zerwürfnis mit der Partei, deren Mitglied er nie gewesen war: »Ich war meinem Gewissen gefolgt. Ich hatte getan, was ich mir schuldig war.« Im Alter hat er immer wieder gefragt, wie es möglich gewesen sei, dass sich so viele bedeutende Schriftsteller – neben Brecht auch Lion Feuchtwanger – zu Lobeshymnen auf Stalin hinreißen ließen?
Klaus Mann notierte in seinem Tagebuch 1938: »Der Sahl zu Tisch. Lange Unterhaltung über amerikanische Possibilitäten ...Was soll man den ratlosen Menschen raten?« In seinem großen Exilroman Die Wenigen und die Vielen heißt es bei Sahl: »Alle Menschen, die es ehrlich meinen, sind ratlos.« Die hilflosen Literatendebatten an den Cafétischen des frühen Exils in Zürich, Prag, Paris oder Amsterdam machten ihm deutlich, wie zerrissen, wie hoffnungslos und zerfasert die Emigration in Wahrheit war. Man hatte keinen Glauben mehr, keine Sicherheit. Die Selbstmorde häuften sich, und jetzt stand er wegen seines Beharrens auf der Wahrheit auch noch als »Verräter« da.
»Erfolg ist Missverständnis«, hatte Kurt Tucholsky geschrieben. Aber Sahl hatte im Exil überhaupt keinen Erfolg. Mühsam genug hielt er sich mit dem Schreiben von Nachrufen und dem Übersetzen amerikanischer Autoren über Wasser. Er wurde zu einer Art Kulturvermittler. Und wen machte er nach dem Krieg nicht alles bekannt in Deutschland! Arthur Miller und Thornton Wilder, Tennessee Williams und John Osborne. Im Exil entstanden auch seine Theaterstücke, Erzählungen, die er in den fünfziger Jahren vergeblich in Deutschland unterzubringen versuchte. Die Verlage waren nach dem Krieg vornehmlich an der sogenannten Kahlschlag-Literatur interessiert. Sahl las bei der Gruppe 47, die ihn aber misstrauisch bis reserviert aufnahm. Grass, Walser und die anderen jungen Autoren wollten nichts von denen wissen, die schon in Weimar reüssiert hatten. Erst 1989, mit 87 Jahren kehrte Hans Sahl endgültig in das Land seiner Geburt zurück. In seinem Exilroman Die Wenigen und die Vielen heißt es:
»Wie er so dahin schritt, sich mit Armen und Beinen einen Weg bahnend, glich er einem Schiffbrüchigen, der an eine unbekannte Küste gespült worden ist und sich verwundert umsieht: Wo bin ich?«
hans sahl: memoiren eines
moralisten. das exil im exil
Luchterhand, München 2008, 512 S., 21,95 €