Sechs Jahre lang hat Lea Revach ihre Kette mit Davidstern im Schrank verstaut. Seit einigen Monaten trägt sie sie wieder offen sichtbar. Für die 32-jährige Kopenhagenerin eine bewusste Entscheidung. Sie kann es selbst kaum glauben, dass es so einfach ist, sich den eigenen Ängsten und Vorurteilen zu stellen. Ihre siebenjährige Tochter findet’s toll, während sie unbekümmert mit ihrer Mutter in der Kopenhagener U-Bahn Hebräisch plappert. Früher hätte Lea ihr den Zeigefinger auf den Mund gelegt und sich unbehaglich gefühlt. Der Blicke wegen.
Lea hatte den Davidstern-Anhänger am Beginn ihrer Schwangerschaft abgelegt. Aus Angst, von Muslimen in der Nachbarschaft angepöbelt zu werden. Doch die Reaktionen der Leute auf ihr wieder entdecktes jüdisches Symbol seien bislang uner- wartet positiv, sagt sie. »Seitdem habe ich die tollsten Gespräche. Im Bus, in der U-Bahn, auf der Straße. Auch mit Muslimen.« Klar, es gebe auch scheele Blicke. »Aber mit denen kann ich jetzt viel besser umgehen.«
Deshalb hat sie vor einigen Wochen auch bei der »Living Library«, der »Menneskebiblioteket«, mitgemacht, als eines von rund 30 »lebendigen Büchern«. Zu dem Event im Königspark in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen kamen mehr als 500 »Leser«, um sich »lebendige Bücher« auszuleihen.
vorurteile Das Konzept – im direkten, persönlichen Kontakt Vorurteile abzubauen – scheint aufzugehen. Seit der ersten Veranstaltung dieser Art im Jahre 2000 im dänischen Roskilde ist das Projekt des Kopenhagener Journalistik-Studenten Ronny Abergel ein Selbstläufer. Weltweit. Nicht nur die skandinavischen Nachbarn Schweden und Norwegen haben die Idee längst adaptiert. Von Europa bis Australien werden mittlerweile »lebendige Bücher« von den Organisatoren aufs Detail gecastet und gecoacht, um sich später den Fragen der Leser zu stellen. Eine Riesenverantwortung, findet Abergel. Denn alle Fragen sind erlaubt. Einmal im Jahr steht Ronni Abergel mit seinem »Living-Library«-Zelt auf der Göteborger Buchmesse. Viel Werbung braucht er mittlerweile nicht mehr, eine Finanzierung hingegen dringend.
In Norwegen und Schweden heißt die Living Library »Fördomsbiblioteket« (auf Deutsch: »Vorurteilsbibliothek«), wird von den Kommunen finanziert und ist in allen großen und kleinen Städten zu finden, meist in Zusammenarbeit mit örtlichen Bibliotheken, Schulen und Museen. Im Gegensatz zum dänischen Original sind in den skandinavischen Ablegern jedoch vorwiegend die nationalen Minderheiten des Landes vertreten. Der schwedische Künstler Peter Freudenthal (71), der sich im Jahre 2006 im mittelschwedischen Norrköping als »Jude« ausleihen ließ, erinnert sich: »Schweden sind eher schüchtern. Es hat eine Weile gedauert, bis sie aufgetaut sind und mich gefragt haben, ob wirklich alle Juden geizig sind.«
begegnung »In der Regel legen die Leute ihre Vorurteile schnell ab«, ist Ronny Abergels Erfahrung. »Manche finden sie auch bestätigt. Aber immer berührt die Begegnung mit anderen Menschen.« Genau das sei der Gesellschaft abhanden gekommen, sagt Abergel weiter: miteinander zu reden und Fragen zu stellen. »Nur so können wir aber Beziehungen und Dialog aufbauen«, meint der 36-Jährige.
Ronni Abergel, Sohn eines aus Marokko stammenden Israelis und einer dänischen Jüdin, will dabei die ganze Vielfalt der Gesellschaft zeigen. Deshalb kamen bei dem Event in Kopenhagen neben Muslimen und Roma eben auch Polizisten, Afghanistanfreiwillige, Fotomodelle, Transvestiten und Rentner zu Wort. Aber keine Juden. Für »jüdische Bücher« gibt es laut Abergel einfach keine Nachfrage. Ein Grund, weshalb Lea Revach sich lieber als »Fotomodell« ausleihen ließ und nicht als »Jüdin«. Trotz funkelnder Davidsternkette.
»Als Fotomodell begegne ich ständig Vorurteilen, als Jüdin eher weniger. Zumindest was die Dänen betrifft«, meint die 32-Jährige entspannt. »Man bemerkt uns eben kaum«, fügt sie lachend hinzu. Kein Wunder, schließlich sei die jüdische Minderheit bestens in die dänische Gesellschaft integriert, sagt Abergel. Die größte Barriere, sich selbst als »jüdisches Buch« zur Verfügung zu stellen, sei seine Angst vor Gewalt von muslimischer Seite.
Abergel wohnt in Nørrebro, einem Kopenhagener Einwanderervorort mit 90 Prozent muslimischer Bevölkerung und jeder Menge sozialem Zündstoff. Neulich traf er im Supermarkt einen alten Marokkaner, einen freundlichen, gemäßigten Mann. Nachdem sie sich über Gemüsepreise, Familie und das Leben ausgetauscht hatten, fragte der Alte plötzlich: Bist du für die Dänen oder den Islam? In der Hoffnung, der Radikalisierung dieser Frage die Schärfe zu nehmen, antwortete Ronni Abergel: »Ich bin für mich selbst. Nicht, woher ich komme, ist wichtig, sondern wohin ich gehe.«
Diese Lektion hat er bereits als Jugendlicher gelernt. Im Alter von 16 Jahren war er zusammen mit einem israelischen Freund von einer arabischen Jugendgang attackiert worden – eine lebensbedrohliche Erfahrung, die ihn sein Leben, sein Judentum und eigene Vorurteile überdenken ließ. »Damals begriff ich, dass meine Herkunft ein Grund sein kann, mich zu töten. Das hat mir Angst gemacht.« Dass er zehn Jahre später das Konzept zur »Living Library« entwickelt hat, führt Abergel auch auf diese Erfahrung zurück. »Jeder Mensch hat Vorurteile. Ich lebe damit. Deshalb habe ich die Living Library gegründet«, sagt er und fügt hinzu: »Nur wenn ich weiß, wer die Menschen um mich herum sind, wenn ich sie verstehe, fühle ich mich sicher und wohl.«
Seit sich Lea Revach mit ihrer Angst vor antisemitischen Angriffen auseinandersetzt, kann sich das 32-jährige Fotomodell gut vorstellen, eines Tages auch als »jüdisches Buch« aufzutreten. »Es wäre toll, wenn mehr Juden bei der ›Living Library‹ mitmachen würden«, sagt Revach, »viele Muslime haben sicher jede Menge Fragen. Hier ist der richtige Ort, sie zu stellen.«