von Gil Yaron
Eine Reihe alter Eukalyptusbäume säumt die Landstraße nach Sderot. Sie wurden vor fünfzig Jahren gepflanzt, um die Israelis vor ägyptischen Scharfschützen im nahen Gasastreifen zu schützen. Gegen die selbstgebauten Kassam-Raketen, die palästinensische Terroristen seit einem Jahr fast täglich auf Ortschaften der Region schießen, bietet das Grün keinen Schutz. Mehr als 1.000 Kassams fielen seit dem israelischen Rückzug aus dem Gasastreifen im August vergangenen Jahres auf Dörfer und Städte.
So ist das Leben in der Kleinstadt Sderot, nur vierzig Autominuten von Tel Aviv entfernt, sehr gefährlich geworden. Meist haben die Bewohner Glück im Unglück. Die Raketen richten hauptsächlich Sachschaden an. Doch am Mittwoch vergangener Woche schlug eine Kassam neben Faina Slutzker ein und tötete sie sofort. Maor Peretz, einem Leibwächter des Verteidigungsministers, riß das Schrapnell zwei Beine ab. Am Dienstag schlugen Raketen in einer Fabrik ein. Dabei kam der Arbeiter Yaakov Yaakobov ums Leben.
Die Stadt lebt in Angst. Während in Tel Aviv und dem Rest des Landes das Leben seinen normalen Gang geht, herrscht zum Beispiel im Einkaufszentrum von Sderot gähnende Leere. Der russische Milliardär Arkadi Gaidamak hat hunderten Bewohnern spontan einen Kurzurlaub am Roten Meer spendiert. Bei Burger King sitzt jetzt nur noch eine Mutter mit ihrer Tochter, im Blumenladen nebenan wartet David vergeblich auf Kunden. David ist schon vor Jahren in die nahe Küstenstadt Aschkelon gezogen. Früher besuchte er mit seinen drei Kindern jedes Wochenende seine Eltern, die hier wohnen blieben. Jetzt trauen sie sich nicht mehr her. »Ich will meine Kinder dieser Gefahr nicht aussetzen. Und meine Eltern sind am Wochenende schon zu uns gezogen, weil sie zu Hause keinen Bunker haben«, sagt David.
Die Gefahr, die von den handgefertigten Raketen ausgeht, wird immer größer. Die palästinensischen Terrororganisationen schmuggeln hochexplosiven Sprengstoff in den Gasastreifen und verbessern die Reichweite der Raketen. »Früher war eine Kassam nur ein leeres Rohr, das neben dir einschlug. Sie machte höchstens ein Loch in die Straße. Aber jetzt sind sie tödlich. Als vor einer Woche eine Kassam den Markt in 100 Meter Entfernung traf, flogen heiße Metallsplitter bis vor mein Geschäft«, erzählt David. Sein Mitarbeiter versteckt sich jedesmal unter der Theke, wenn das Warnsignal ertönt, seit eine Rakete ihn vor drei Monaten fast erwischt hätte.
Der alltägliche Streß macht sich auch in den Schulen bemerkbar. Die 151 Kinder der Yigal-Alon-Grundschule haben es noch vergleichsweise gut. Der Zivilschutz hat die Wände ihrer Klassenzimmer verstärkt, vor die Fenster wurde ein hohe Schutzmauer gebaut. Die hält die Kassamraketen, aber auch die Sonne außen vor. Andere Schulen der Umgebung sind noch nicht zusätzlich geschützt worden. Die Armee schätzt die Kosten einer umfassenden Befestigung der Schulen auf 50 Millionen Euro. Am vergangenen Freitag sind nur ein paar Dutzend Kinder zum Unterrricht erschienen, der Rest ist mit den Eltern aus Sderot geflüchtet. »Seit zehn Tagen dürfen die Kinder die befestigten Klassenräume auch während der Unterrichtspausen nicht mehr verlassen. Das setzt alle unheimlich unter Druck«, sagt die Direktorin Liora Pima. Bis zu vier Mal am Tag ertönt plötzlich eine Frauenstimme über die Laut-
sprecher des Zivilschutzes und plärrt: »Rote Farbe, rote Farbe!.« Das ist der Code, das Signal eines Raketenangriffs. »Dann kriechen die Kinder unter ihre Tische, die Lehrerinnen schließen Türen und Fenster.« Es bleiben nur 15 Sekunden Zeit, um vor den Kassams Schutz zu suchen. »Das Warten bis zum Einschlag sind die längsten 15 Sekunden des Lebens«, sagt Pima. Im Stillen harren die Kinder unter ihren Tischen zwei Minuten lang aus, um sicherzustellen, daß keine weiteren Raketen folgen. Dann beginnen überall die Telefone zu läuten. »Normalerweise ist es verboten, Handys in die Schule mitzubringen, aber hier ist es die einzige Möglichkeit, Eltern und Kinder zu beruhigen.« Alle leiden inzwischen unter Angstzuständen. »Ein Junge aus der vierten Klasse weigert sich neuerdings, allein auf Toilette zu gehen. Die ist nicht befestigt. Da muß jetzt immer eine Lehrerin mit und warten«, berichtet Liora.
Radion Schakirov hat seine neunjährige Tochter Daniella zum Besuch der Alon-Schule begleitet. Sie vermißt ihre Freunde, seitdem die Schakirovs im August ins nahe Aschkelon zogen. »Als meine Tochter mir sagte, sie habe Angst, allein zu duschen, haben wir unsere Sachen gepackt und sind weggezogen«, sagt Radion. »Jetzt ist sie zwar noch schreckhaft, aber schläft wieder besser.« Den Schakirovs gelang es, ihre Wohnung zu vermieten. An Verkauf ist nicht zu denken. Die meisten anderen sitzen in Sderot fest. Viele wohlhabende Familien sind inzwischen weg. Zurück bleiben die, die sich den Ortswechsel nicht leisten können. Nur wenige, wie Liora Pima, zieht es aus Patriotismus gerade ins Krisengebiet. »Dies ist mein Land. Wegzulaufen ist keine Lösung, dann hätten die Terroristen doch gewonnen. Als Erzieherin muß ich Beispiel sein«, sagt die Mutter zweier Kinder.
Radikale Töne hört man von den Menschen in Sderot kaum. Die meisten haben die Räumung des Gasastreifens, dessen Opfer sie geworden sind, befürwortet. Wie man für Ruhe sorgen soll, wissen sie nicht. Auch ihre Regierung scheint hilflos zu sein. Nach massiven Bombardements und einigen anderen militärischen Aktionen sind Israel die Ideen ausgegangen. Die Bäume auf dem Weg nach Sderot erinnern noch an eine Zeit, in der man mit einfachen und konstruktiven Mitteln komplexe Probleme lösen konnte. Die Zeiten sind längst vorbei.