von Thomas Wörtche
Es ist ruhiger geworden in Israel seit ein paar Jahren. Die Medien melden nicht mehr jeden Tag palästinensische Attentate gegen Zivilisten wie auf dem Höhepunkt der zweiten Intifada. Doch die Zeit der Selbstmordanschläge wirkt noch immer bis in den Alltag nach. In ihrer Graphic Novel Blutspuren erzählt die israelische Comicautorin Rutu Modan von einem Mann, der 2002 angeblich bei einem Bombenattentat am Busbahnhof von Hadera ums Leben gekommen sein soll. Ganz sicher ist das nicht, weil seine Anwesenheit am Ort der Explosion aus den spärlichen Häppchen menschlichen Gewebes und anderen aufgefundenen Überresten nicht zweifelsfrei bestätigt werden kann. In klaren, kunstvoll reduzierten und präzisen Bildern schildert Modan, wie der Tel Aviver Taxifahrer Kobi, Sohn des mutmaßlichen Opfers, die Suche nach diesem vielleicht toten, vielleicht auch nur verschwundenen Mann aufnimmt und dessen letzte Lebensminuten zu rekonstruieren versucht. Begleitet wird er dabei von einer jungen Frau, wegen ihres sehr eigenen Aussehens »Giraffe« genannt. Sie behauptet, die Geliebte des ominösen Gabriel Franco gewesen zu sein, was der Sohn nicht glauben mag. »Giraffe« möchte Gewissheit über Gabriels Tod, damit könnte sie leichter leben als mit dem Verdacht, von ihm verlassen worden zu sein. Kobi ist skeptisch, schließlich kennt er seinen Vater.
Die Blutspuren beziehungsweise Austrittswunden (so der englische Titel Exit Wounds), die die beiden untersuchen, erweisen sich dabei eher als psychische Verletzungen. Die Blutspur der Al-Aksa-Intifada, die sich als alltäglicher Terror von 2000 bis 2005 durch Israel zog, ist in dieser Graphic Novel nicht Kulisse, sondern Voraussetzung. Sie ist Bestandteil von privatem Leben und möglicherweise, grausig und zynisch gewendet, für Gabriel Franco die Möglichkeit, verschiedene Identitäten zu leben. Geschützt durch Leid und Elend, die ihm ein effektives Abtauchen erlauben, auf Kosten der Menschen, die ihn lieben. Wo Gewalt, Mord und Terror an der Tagesordnung sind wie im Israel der Selbstmordanschläge, geht auch die Kunst anders damit um, als sie es in Gesellschaften wie unserer tut, an deren Oberfläche diese Schauderhaftigkeiten nicht so allgegenwärtig sind. Wobei dankenswerterweise Blutspuren eine private Suspense-Story ist und kein bemühter Politthriller, der uns mal so richtig erklären will, wie’s abgeht in Nahost.
»Ich habe in Blutspuren versucht, nicht nur den dramatischen, sondern auch den alltäglichen Aspekt und die Nüchternheit des Todes zu beschreiben«, sagt Rutu Modan. »Der Plot basiert auf einem aktuellen Ereignis: Bei einem Terroranschlag auf einen Bus wurden mehrere Menschen getötet. Dies ist schon oft vorgekommen, aber diesmal gab es eine Leiche, die niemand vermisste. David Ofek hat über dieses Ereignis einen wunderbaren Dokumentarfilm gedreht, No. 17.«
Rutu Modan, 1966 in Tel Aviv geboren und Absolventin der renommierten Bezalel-Kunstakademie in Jerusalem, gehört zu Israels führenden Zeichnerinnen. In Blutspuren zeigt sie sich als begnadete Erzählerin, die ihr Medium der Bildgeschichte virtuos beherrscht. Ihre Panels, die sich dehnen und zusammenziehen, im beinahe mittelalterlichen Sinn mit Bedeutungsproportionen arbeiten, und überhaupt strengstens auf Semantik hin an- gelegt sind, sind Wunderwerke der Gewichtung und Balance. Die Farben sind bewusst artifiziell gehalten, eher ästhetisch-optischen Erwägungen geschuldet denn naturalistischer Mimikry. Der Text ist so minimalistisch (und deutlich gelettert), dass eine schnelle und flüssige »Lesbarkeit« garantiert ist. Klarheit und Transparenz der Grafik stehen so in schönster dialektischer Spannung zu der Story, die mit ihren Wendungen und Spannungsbögen durchaus tricky ist. Als Liebesgeschichte (auch weil zwischen dem suchenden Sohn und der suchenden Geliebten des Vaters natürlich ein Beziehungsmatch beginnt) und als Kriminalgeschichte der subtileren Art.
rutu modan: blutspuren
Aus dem Hebräischen von Barbara Linner. Edition Moderne, Zürich 2008, 166 S., 28 €