Leben an der Förde
Ein Buch über die Nachbarschaft von Juden und Nichtjuden in Flensburg
von Gwendolin Jung
»Ein Meilenstein« in der Stadtgeschichte nennt der Flensburger Stadtarchivar Broder Schwensen das Buch Juden in Flensburg. Anderthalb Jahre hat Bettina Goldberg an dem 185-Seiten-Werk gearbeitet, um die Geschichte der Juden in der Fördestadt von ihren Anfängen im 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart darzustellen.
Die Historikerin, die als Dozentin an der Universität Flensburg tätig ist, schöpfte für ihre Arbeit vor allem aus zwei Quellen. Zum einen recherchierte sie selber über die jüdische Geschichte in Schleswig-Holstein. Zum anderen konnte sie sich auf die umfangreiche Sammlung des Journalisten Bernd Philipsen stützen, der sich seit den 70er Jahren mit diesem Thema ausführlich beschäftigt.
Herausgekommen ist ein umfangreiches Werk, das in fünf Kapiteln die Lebensbedingungen jüdischer Bürger in Flensburg schildert. Goldberg widmet sich dabei insbesondere dem Verhältnis zwischen jüdischer Minderheit und nichtjüdischer Mehrheit. Sie zeigt, wie integriert jüdische Familien in die Flensburger Gesellschaft einerseits waren – und wie andererseits mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus jede Sympathie für sie schwand.
»Flensburg ist eine typische Stadt in Deutschland«, sagt Goldberg: In der Weimarer Republik habe es bereits einen ausgeprägten Antisemitismus gegeben, der sich dann steigerte zu Gewalt gegen jüdische Bürger. Die Historikerin zeigt in ihrem Buch aber auch, wie sich die Juden – 1933 lebten 39 in Flensburg – gegen Vorurteile und Verleumdungen zur Wehr setzen mußten. Ein Beispiel dafür ist ein offener Brief des Elektromeisters Walther Basch. Dieser warb am 3. April 1933 in den »Flensburger Nachrichten« um Toleranz. Ohne Erfolg – knapp ein Jahr später mußte er die Stadt verlassen und ging nach Hamburg, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen. Ob er den Holocaust überlebt hat, ist nicht bekannt.
Die Autorin zeichnet in ihrem Buch die Schicksale vieler jüdischer Familien nach, was das Werk sehr authentisch und lesenswert macht. Herausragend ist dabei die Schilderung des Lebenslaufs der Familie Monin, die in den 20er Jahren aus Weißrußland an die Förde kam. Benjamin war Schneidermeister und hatte eine eigene Werkstatt aufgemacht. Mit Beginn des Dritten Reichs mußte die Familie unter Repressalien leiden – ein Nachbar zeigte sie mehrmals an: In ihrem Haus fänden illegale Versammlungen statt, sagte er aus. Die Gestapo durchsuchte mehrmals erfolglos die Räumlichkeiten.
Für die Familie bedeuteten diese Schikanen, daß sie in Deutschland nicht mehr sicher waren. Im Herbst 1934 wanderten die Monins nach Palästina aus. Sohn Schimon, geboren 1922, wollte die Beziehungen zu seiner ehemaligen Heimat jedoch nicht aufgeben. Seit den 60er Jahren setzte er sich für eine deutsch-israelische Verständigung ein und widmet sich dem Aufbau eines Jugendaustauschs.
Die Wiederannährung an Flensburg war für ihn schwierig. Als er seine Geburtsstadt 1969 das erste Mal wieder besuchen wollte, machte er auf dem Bahnhof kehrt. Zu sehr erinnerten ihn Straßen und Gebäude an die schreckliche Zeit. Ein Jahr später fand Schimon Monin die Kraft, seine Heimatstadt wirklich wiederzusehen. Inzwischen hat er viele Kontakte nach Flensburg und reist regelmäßig in die Fördestadt und ihre Umgebung. Dort hält er Vorträge und begrüßt die Zuschauer mit dem Satz: »Ich bin zwar kein Deutscher, aber ich bin ein Flensburger wie Sie.«
Mit der heutigen Situation der jüdischen Bürger in Flensburg beschäftigt sich das letzte Kapitel des Buches. Es wird deutlich, daß die 55 Mitglieder der jüdischen Gemeinde neue Traditionen aufbauen und Kontakt zu ihren christlichen Nachbarn suchen. »Es ist noch ein zartes Pflänzchen«, sagt Goldberg. Doch erste Ansätze sind vorhanden.