von Hans-Ulrich Dillmann
Alejandro Kladniew ist zufrieden. Vier Tage lang haben sich in der kolumbianischen Küstenstadt Cartagena fast 700 Juden aus Lateinamerika und der Karibik getroffen. »Alles hat perfekt geklappt, wir haben mit viel gegenseitigem Respekt diskutiert und Positionen ausgetauscht«, fasst der Generaldirektor des lateinamerikanischen Büros des Joint Distribution Committee (JOINT) das jüdische Großtreffen zusammen.
Zum elften Mal seit 1991 sind die Gemeinden des Kontinents zum Erfahrungsaustausch zusammengekommen. Rund eine halbe Million Juden leben in der Region. Alle zwei bis drei Jahre lädt der JOINT die Leiter jüdischer Institutionen und Gemeinden aus Lateinamerika und der Karibik zum »Encuentro«, dem mehrtägigen Treffen ein. »Es ist die wichtigste jüdische Aktivität unserer Region«, betont Kladniew, schließlich setzen sich nicht nur die Präsidenten der rund zwei Dutzend Landesverbände zusammen, sondern auch die Leiter der einzelnen Gemeinden sowie orthodoxe, liberale und konservative Rabbiner, um gemeinsame Probleme zu erörtern und gemein- same Strategien zu entwickeln.
Die Gemeinden Lateinamerikas sind mit gravierenden Problemen konfrontiert, die sich auch in den Plenardebatten des Treffens widerspiegelten. »Der Antisemitismus nimmt zu«, sagt Marcos Peckel, Mitorganisator des Treffens und Präsident der Konföderation der jüdischen Gemeinden Kolumbiens. Judenfeindliche Schmähschriften finden sich immer öfter in Buchhandlungen. Dazu kommen antisemitische Pa- rolen an Mauern von Synagogen und Gemeindezentren sowie kleinere Anschläge.
Zusätzlich bereitet den Juden Lateinamerikas die wachsende Zahl linker Regierungen Kopfschmerzen, die in den vergangenen Monaten die diplomatischen Bezie- hungen zu Israel eingefroren oder abgebrochen haben: Venezuela, Bolivien und Nicaragua. Gerade dort, stellen Gemeindemitglieder immer wieder fest, nimmt der Anti- semitismus zu. Viele der jüdischen Familien Nicaraguas seien aus Angst ausgewandert oder planten es. »Die Gemeinde existiert praktisch nicht mehr«, sagt Peckel. Es sei schwer, inzwischen überhaupt noch einen Minjan zusammenzubekommen.
Mit zunehmender Sorge betrachten Peckel und seine Kollegen die feindliche Haltung zwischen jüdischen und muslimischen Einwanderern in Lateinamerika. »Ihr Verhältnis zueinander war in der Vergangenheit immer gut«, sagt Peckel. An der Plenardebatte beim jüngsten »Encuentro« haben auch Migranten aus arabischen Ländern teilgenommen. »Wir müssen miteinander im Gespräch bleiben«, betont Peckel.
Was in den USA und Europa den Bestand vieler Gemeinden gefährdet, ist in den großen Ländern Lateinamerikas kaum ein Thema: die Ehe von Juden mit Nichtjuden. Nach Schätzungen liegt die Zahl zwischen zehn und 20 Prozent. Es gebe nur wenige »gemischte Ehen«, sagt Peckel. Meist konvertiere der Ehepartner zum Judentum.
Mehr als einhundert Jugendliche nahmen an dem Treffen in Cartagena teil, denn ein wichtiger Punkt der Debatte war die jüdische Erziehung. Zwar verfügen alle großen Gemeinden über eigene Bildungseinrichtungen, die die Kinder bis zur Hochschulreife führen. Doch durch die Wirt- schaftskrise können immer weniger Eltern die zum Teil erheblichen Kosten für den Schulbesuch aufbringen. Eine Entwicklung, die fast alle Länder betrifft. Die Einkünfte der Eltern nehmen ab, die Schulzuschüsse der Gemeinden müssten erhöht werden, doch auch die Einahmen der Gemeinden gehen zurück. Einige jüdische Lehrer möchten die Schulen deshalb auch für nichtjüdische Schüler öffnen, andere lehnen dies vehement ab.
Die Wirtschaftskrise hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen auf die Unterstützung der Gemeinden angewiesen sind. Mit Interesse wurden in Cartagena die Erfahrungen der jüdischen Suppenküchen für die Armen der Gemeinde in Argentinien aufgenommen.
Für Joshua Kullock, konservativer Rabbiner der Gemeinde im mexikanischen Guadalajara, war das Treffen der 673 jüdischen Latinos eine neue und wichtige Erfahrung. Es schaffe, sagt er, »ein Netz von gegenseitiger Unterstützung jenseits der institutionellen Grenzen der einzelnen Gemeinden«.