von Sabine Brandes
Mein Freund Halel Hadari wohnt in einem beschaulichen Moschaw zwischen Afula und Nazareth. Die Gegend heißt Jisrael-Tal. Ich wohne eigentlich in der Nähe von Tel Aviv. Am Donnerstag fahren meine Tochter Dana und ich in Richtung Norden, damit ich für meine Artikel recherchieren kann, während sie bei meinem Freund in sicherer Entfernung des »richtigen Nordens« bleibt, wo die Katjuschas der Hisbollah bereits mit trauriger Regelmäßigkeit einschlagen. Am Freitagmorgen mache ich mich dann auf den Weg nach Naharija. Es ist ruhig, als ich dort ankomme, fast zu ruhig. Die Straßen sind leer, die Geschäfte geschlossen, nur ein paar kleine Supermärkte und Kioske haben geöffnet. Mosche Zanany schleppt gerade zwei Sechserpacks mit Wasser. Seine Familie sitzt im Bunker des Hauses. Zusammen mit acht Nachbarn aus dem Wohnblock quetschen sie sich auf dünne Matratzen. Zwei andere Familien hätten gestern die Stadt verlassen, um bei Verwandten weiter südlich unterzukommen, erzählt Zanany. Zusammen mit Tausenden anderen. Israel rückt zusammen, Einladungen für Menschen aus dem Norden kommen aus dem ganzen Land, sogar aus Sderot, der von Kassamraketen gequälten Stadt. Zanany hat zwei Kinder. Seine vierjährige Tochter hatte sich schon wochenlang auf das Sommerlager gefreut. Doch alles ist in Naharija abgesagt, das öffentliche Leben steht still. »Jetzt hat sie statt Sommerlager ein Matratzenlager im Bunker«, witzelt Zanany und klingt dabei unendlich traurig. Wir reden, plötzlich ein Knall, dann noch einer. Die Einschläge können nicht weit sein. »Runter!«, schreit Zanany und wirft sich auf den Boden. Mein Gesicht im Staub denke ich, daß ich jetzt wegfahren kann, dieser Mann und seine Familie können nirgendwohin.
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Am Samstag die Nachricht, daß Katjuschas Tiberias getroffen haben. Menschen irren durch die Straßen, als ob sie nicht wissen, wie ihnen geschieht. Die Polizei ruft per Megaphon auf, ohne Umwege in die Bunker zu gehen. Ich sitze in Nahalal, 40 Kilometer von Tiberias entfernt. Haifa ist 25 Kilometer weg. Auch hier trifft die erste Katjuscha am Samstag ihr Ziel. Noch scheinen die Bewohner kaum nervös zu sein. Am Telefon erzählt mir Ariel Fichman, daß noch viele Leute draußen seien. »Wir haben keine Angst. Die Leute im Norden sind furchtloser als die im Süden.« Es hört sich an, als wolle er sich selbst Mut machen. Einen Tag später regnen die Raketen auf Haifa nieder. Acht Menschen sterben, viele werden verletzt. Ich fahre los. Die Straße gen Norden ist auffallend leer. Angekommen, traue ich meinen Augen kaum. Die drittgrößte Stadt Israels ist zur Geisterstadt geworden. Hier und da ein Auto, meist Polizei, aber kein einziger Mensch. Außer Eli Maimon. Er schließt gerade seine Autowerkstatt ab. Normalerweise ist Sonntag sein Hauptgeschäftstag, heute hat er nicht einen einzigen Kunden. »Mir reicht’s, ich bin weg«, sagt er atemlos. Hat er Angst? »Um meine Familie, meine Freunde. Es kann ja jeden treffen, jederzeit.« Große Sorgen bereiten ihm die Chemiefabriken am Hafen. »Wenn die Hisbollah die beschießt, trifft es vielleicht uns alle.« Maimon setzt sich auf sein Moped. Dann dreht er sich noch einmal um: »Die Hisbollah soll wissen, daß das israelische Volk stark ist, daß wir uns keinen Terroristen beugen.«
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Mit jedem Kilometer, den ich mich dem Jisrael-Tal nähere, entspanne ich mich. Außer hübscher Natur und einer Menge Landwirtschaft ist hier im Tal nicht viel zu sehen. Eigentlich gibt es auch nicht viel zu bombardieren. Wäre da nicht »Kanaf echad, Flügel Nummer eins«, der große Luftwaffenstützpunkt. Hubschrauber und Kampfjets starten und landen rund um die Uhr. Es ist jetzt Sonntagabend. Die Nachbarn meines Freundes sind auf einen Kaffee vorbeigekommen. Ariel, ein Armeeveteran mit tiefer Stimme und noch tieferen Furchen im Gesicht erklärt uns in epischer Breite, was zu tun sei, sollten wir eine Katjuscha sehen oder hören. Wenn wir auf dem Boden liegen, haben die Metallteile, mit denen die Raketen bestückt sind, weniger Chancen, in den Körper einzudringen. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß sie hierher kommen, sei gering. Ariel irrte sich.
Erst war da der Knall. Dumpf und nicht sehr laut, aber laut genug, um das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Wir hatten seit Tagen an nichts anderes gedacht, als an Katjuschas, Einschläge und Schutzbunker. Dana schläft im Nebenzimmer, als wir das hören, wovor wir uns so gefürchtet und was wir so gut es ging verdrängt hatten. »Sie kommen nicht bis hierher«, hatte Halel immer wieder versichert. Aber sie kamen. Erst Naharija, dann Tiberias, Haifa. Jetzt waren sie hier. Da war er also, der Krieg. Nicht mehr »um die Ecke«. Er war direkt an unsere Haustür. Ein schrilles Pfeifen. Der Ton einer Katjuscha direkt vor dem Aufprall. Ich spüre Panik in mir aufsteigen. Bloß nicht die Nerven verlieren. Mit meiner Tochter auf dem Arm renne ich ums Haus herum und die Treppe hinunter, den grellen Ton der Sirene im Nacken. Dana wacht auf und beginnt zu weinen. Sie versteht nicht, worum es geht. Der unterirdische Bunker ist ein Zimmerchen, in dem drei Leute liegen können, zwei Meter lang, zwei breit. Eine dicke Metalltür schließt uns sicher ein, ein winziges Fenster bringt etwas Luft zum Atmen. Halel rennt zur Wohnung zurück, wir haben nichts zu trinken, und Dana verlangt nach ihrem Kuscheltier. Er muß dafür die Straße überqueren. Als er draußen ist, höre ich noch zwei Einschläge. Dann ist er zurück. Ich bin schweißgebadet. Über ein kleines Radio im Handy empfangen wir verzerrte Nachrichten: Einschläge in Afula, Nazareth und Migdal Ha’ Emek. Nur drei Stunden vorher hatten wir in diesem verschlafenen Örtchen auf einem Spielplatz geses- sen und gelacht. Jetzt muß ich weinen. Nach einer langen Stunde fallen meiner Tochter endlich die Augen zu.