von Rabbiner David Bollag
Das primäre Ziel der Tora liegt darin, uns zu lehren, richtig zu leben. Von allem Anfang an will uns die Tora beibringen, ein in jeglicher Hinsicht sinnvolles und reiches Leben zu führen. Auch der Schöpfungsbericht dient in erster Linie diesem Ziel. Er ist nicht als naturwissenschaftlicher Bericht über die Entstehung der Welt verfasst worden – und will auch nicht als solcher gelesen und verstanden werden. Er richtet sich nicht an Historiker, die die Vergangenheit erforschen, sondern an Leser, denen die Tora Quelle und Basis ihres gegenwärtigen Lebens ist.
Ein meist unbeachtetes, aber bedeutendes und lehrreiches Detail aus der Schöpfungsgeschichte illustriert uns sehr klar, mit welcher Absicht die Tora geschrieben worden ist und welche Bedeutung auch in der heutigen Zeit in ihr steckt.
Obwohl »Wajechulu« (1. Buch Moses 2, 1-3), der den Schöpfungsbericht abschließende Abschnitt, allwöchentlich am Freitagabend in der Synagoge zwei Mal gebetet wird und uns auch als Teil des Kidduschs sehr geläufig ist, findet sich in ihm ein Wort, das auf den ersten Blick nicht richtig zu sein scheint, unserer Aufmerksamkeit aber meist entgeht. Da lesen wir: »Es waren vollendet der Himmel und die Erde und all ihre Heerscharen. Da vollendete Gott am siebten Tag Seine Arbeit, die Er gemacht hatte, und ruhte am siebten Tag von all Seiner Arbeit, die Er gemacht hatte.«
Gott, so lesen wir hier ganz eindeutig, soll am siebten Tag Seine Arbeit vollendet haben. Das widerspricht aber direkt zwei anderen, ebenso wichtigen, bekannten und geläufigen Stellen in der Tora. In den Zehn Geboten lesen wir – und zitieren jede Woche im Kiddusch am Schabbatmorgen – dass wir den Schabbat begehen und an ihm keine Arbeit verrichten dürfen, »weil Gott in sechs Tagen Himmel und Erde erschuf« (2. Buch Moses 20,10). Genau dieselben Worte finden wir im »Weschamru« (2. Buch Moses 31,17), das ebenfalls Teil des Kidduschs am Schabbatmorgen ist und in vielen Gemeinden auch am Freitagabend in der Synagoge gebetet wird.
Ist die Welt nun in sechs oder in sieben Tagen erschaffen worden? Wenn in sieben, dann hat Gott am siebten Tag anscheinend nicht geruht. Warum sagt die Tora dann, dass Er am siebten Tag ruhte (1. Buch Moses 2,2 und 2. Buch Moses 20,10)? Und warum befiehlt sie, dass wir an diesem Tag ruhen und keine Arbeit verrichten sollen?
Der Midrasch (Bereschit Rabba 10,9) setzt sich genau mit diesen Fragen auseinander und bietet eine Reihe verschiedenartiger Antworten. Ich möchte eine davon zitieren, in der verkürzten und etwas verän- derten Form, in der Raschi sie in seinem Bibelkommentar (zum 1. Buch Moses 2,2) präsentiert: Als Gott nach sechs Tagen die Erschaffung der Welt beendet hatte, sah Er, dass noch etwas fehlte, dass die Schöpfung noch nicht vollkommen war. Der Welt fehlte Ruhe. Zu diesem Zweck schuf Er am sieb-ten Tag den Schabbat, den Tag der Ruhe.
Jetzt verstehen wir, warum die Tora schreibt, dass Gott am siebten Tag Seine Arbeit vollendete. Auch am siebten Tag schuf Gott noch etwas: den Schabbat. Mit ihm vollendete er Sein Schöpfungswerk.
Mit dieser Antwort löst der Midrasch aber nicht nur ein exegetisches Problem – das ist auch nicht sein primäres Anliegen –, sondern er bringt gleichzeitig einen zentralen Aspekt des Schabbats zum Ausdruck. Der Midrasch zeigt, dass der Schabbat von Gott geschaffen wurde. Er ist nicht dadurch entstanden, dass Gott am siebten Tag einfach passiv blieb, nichts mehr erschuf, sondern er ist das Resultat einer aktiven Handlung Gottes.
Das bedeutet, dass auch für uns der Schabbat, mit dem wir wöchentlich den Schabbat der Schöpfungsgeschichte nachvollziehen, nicht ein Tag sein will und soll, an dem wir einfach nichts tun und passiv bleiben. Der Schabbat ist nicht ein Pyjama-Tag, sondern er hat einen positiven Inhalt. Halachisch gesehen kommt das durch die positiven Gebote des Schabbats zum Ausdruck. Der Schabbat ist nicht nur mit einem Arbeitsverbot versehen, sondern hat auch positive halachische Vorschriften, wie zum Beispiel das Entzünden der Kerzen, den Kiddusch und die Schabbatmahlzeiten.
Das zeigt, wir sind aufgefordert, durch unser Verhalten an diesem Tag eine Atmosphäre entstehen zu lassen, die die göttliche Ruhe, die am siebten Tag erschaffen wurde, in uns herstellt. Der Schabbat kommt nicht von alleine. Wir müssen ihn schaffen.
Gleichzeitig illustriert uns dieser Midrasch aber auch sehr deutlich, wie unangebracht es ist, den biblischen Schöpfungsbericht als naturwissenschaftlichen Bericht zu betrachten. Die hier beschriebene Erschaffung des Schabbats durch Gott ist rein geistig, vollkommen immateriell. Sie kann somit nicht gemessen und naturwissenschaftlich beurteilt werden. Folglich kann die Tora nicht als paläontologisches Dokument verwendet werden. Denn mit dieser Absicht wurde sie nicht verfasst.
Vielmehr lesen und lernen wir die Paraschat Bereschit Jahr für Jahr und beginnen mit ihr einen neuen Zyklus der Wochenabschnitte, um aus ihr zu lernen, welche Bedeutung der Schabbat und alle anderen Vorschriften der Tora auch heute für uns haben.
Der Autor lehrt an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg sowie an den Universitäten Zürich und Luzern. Den Text entnahmen wir dem Band »Mismor LeDavid. Rabbinische Betrachtungen zum Wochenabschnitt« (Verlag Morascha, Basel 2007).