von Rabbiner Jonathan Magonet
Im heutigen Tora-Abschnitt findet sich eine Stelle, die zu den am häufigsten angeführten und zugleich zu den umstrittensten im gesamtem jüdischen Leben zählt. Der Text wurde als zweiter Abschnitt des Schma-Gebetes zur Lesung in den Früh- und Abendgebeten ausgewählt. »Und es wird sein, wenn ihr hören werdet auf meine Gebote, die ich euch heute gebiete ...« Sie fährt fort mit der Aufzählung der Belohnungen für die Befolgung von Gottes Geboten. Sie nennt aber auch die Strafen, für den, der sich anderen Göttern zuwendet.
Die rabbinische Überlieferung erläutert, daß wir mit der Lesung des ersten Abschnitts des Schma-Gebetes das Joch des himmlischen Königreiches auf uns nehmen. Indem wir anerkennen, daß Gott Einer ist, und indem wir die nachfolgenden Sätze sprechen – »den Ewigen, euren Gott, zu lieben und ihm zu dienen mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele« – übernehmen wir die Verantwortung dafür, in der Welt Zeugnis von Gottes Dasein und von Gottes Verbindung mit der Menschheit abzulegen. Der zweite Abschnitt bedeutet demnach, daß wir das Joch der Gebote auf uns nehmen. Das heißt, daß wir verantwortlich dafür sind, die gesetzlichen Bedingungen einzuhalten, die mit dem Bund einhergehen, dem unsere Vorväter am Berg Sinai zugestimmt haben. Diese beiden Pflichten werden als Last verstanden. Als eine Last jedoch, die wir auf uns frei und mit einer großen Freude nehmen, wegen des besonderen Verhältnisses Israels zu Gott.
Der zweite Abschnitt ist indes problematisch. Er scheint zu besagen, daß eine direkte Verbindung zwischen der Erfüllung von Gottes Willen und dem Empfang eines Lohns besteht. Umgekehrt folgt auf Ungehorsam automatisch die Bestrafung. Das entspricht jedoch nicht der menschlichen Erfahrung. Gute und fromme Menschen können in großem Leid leben. Diejenigen, die Böses tun, können Erfolg haben, ohne sichtlichen Schaden zu nehmen. Die Bibel selbst ringt mit diesem Problem. Der Prophet Jeremia stellt Gott diese Frage ganz direkt: »Warum doch hat der Frevler Weg Gelingen?« (12,1). Der Psalmist, enttäuscht über Gottes scheinbares Schweigen im Angesicht des Bösen, ruft: »Du Gott des Rächens, Ewiger, du Gott des Rächens, erscheine ... zahl heim Vergeltung an die Stolzen!« (Psalmen 94, 1-2). Die Rabbiner waren über dieses Problem nicht weniger beunruhigt – neben anderen Lösungen erwogen sie den Gedanken des Lebens nach dem Tode, in dem alle Ungleichheiten ausgeglichen werden können.
Die Bibel anerkennt jedoch auch, daß ein Teil der Verantwortung für das Scheitern einer Gesellschaft beim Menschen selbst liegt. Er muß dafür Sorge tragen, daß die Gerechtigkeit die Oberhand gewinnt. Gott ist empört, daß die Menschen dem Bösen seinen Lauf lassen, ohne einzugreifen: »Da sah der Ewige, und böse war es in seinen Augen, daß Recht nicht war. Und er verwundert sich, daß niemand ins Mittel tritt. Da hilft er sich selbst mit seinem Arm« (Jesaja 59, 15-16). Das Gefühl, daß die oben zitierte Stelle nicht der Realität entsprach, hat in vielen frühen reformierten Liturgien entweder zur vollständigen Auslassung dieser Passage oder zu ihrer Ersetzung durch andere Bibelstellen geführt. Ist es dennoch möglich, die fragliche Passage so zu deuten, daß sie auch heute für uns hilfreich sein kann?
In unserem Text ist die Rede von Gottes Strafe, indem die Himmel dem Menschen ihr Leben spendendes Wasser vorenthalten, so daß er nichts ernten kann und zugrunde gehen muß. Diese Drohung nimmt heute vor dem Hintergrund unseres wachsenden Umweltbewußtseins eine realistischere Färbung an. Heute wissen wir, daß unser Tun auf globaler Ebene Auswirkungen auf die Umwelt hat. Wir sind Teil eines geschlossenen Ökosystems, und Störungen, die wir an der einen Stelle durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe, durch die Rodung von Wäldern, die Verschmutzung des Wassers, die Freisetzung von Nuklearenergie verursachen, haben nicht selten katastrophale Folgen, die alle unsere Voraussagen weit übertreffen.
Die zitierte Bibelstelle enthält eine Warnung, daß unser Verhalten buchstäblich den Boden beeinträchtigt, auf dem wir leben. Das ist heute deutlicher denn je. Schon müssen wir für unsere Vorstellung bezahlen, daß die Erde schlicht unser Eigentum sei, mit dem wir nach Belieben verfahren können, ohne Rücksicht auf die Schöpfung als ganze zu nehmen. Wenn wir unseren Text in dieser Weise als Warnung verstehen, erhält sie umso mehr Wichtigkeit.
Aber in unserer Passage geschieht noch etwas anderes, das oft übersehen wird. Der Anfang, die Mitte und das Ende richten sich an das gesamte Volk Israel. »Wenn ihr hören werdet auf meine Gebote ...« An zwei zentralen Stellen wechselt der Text jedoch in den Singular und richtet sich somit an jeden einzelnen Israeliten: »Und du wirst dein Getreide einbringen, deinen Most und deinen Ölsaft ... und du wirst essen und satt werden« (5. Buch Moses, 11, 15-16). Beim zweiten Mal wiederholt der Text Wort für Wort Formulierungen, die im ersten Abschnitt des Schma-Gebetes erscheinen: »und lehrt sie eure Kinder, von ihnen zu reden, wenn du in deinem Haus weilst und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst. Und schreibe sie an die Pfosten deines Hauses und an deine Tore.« (11, 19-20; vgl. 5. Buch Moses, 6, 7-9).
Daraus geht hervor, daß jeder Einzelne von uns potentiell der Nutznießer von Gottes Gaben ist und daß jeder Einzelne von uns die Pflicht hat, die Lehren unserer Überlieferung an diejenigen in unserem Kreis weiterzugeben. Aber gleichermaßen sind wir unlösbar mit dem Geschick des jüdischen Volkes insgesamt verbunden. Was wir als Einzelne tun oder versäumen, hat Folgen für das gesamte Volk. Wie die Rabbiner sagen: »Ganz Israel bürgt füreinander«. So bietet die zitierte Stelle also Hoffnung, spricht jedoch zugleich eine feierliche Warnung aus. Wir tragen eine große Verantwortung füreinander und für die Erde, und das betrifft gleichermaßen unser Geschick als Volk Israel und das Überleben der ganzen Menschheit auf dem Planeten.
Ekew: 5. Buch Moses 8,1 bis 11,25