Jüdisches London

Koscher Pizza nachts um eins

von Alex Kaufmann

Man tut es in Amsterdam und Prag, in Warschau, Budapest, Wien und Toledo. Seit ein paar Monaten ist es nun auch in London möglich: Deutschsprachige Touristen können mit einem Handbuch aus dem Wiener Mandelbaum-Verlag die jüdische Seite der jeweiligen Stadt kennenlernen. In vielen Orten Europas liegt die Blütezeit der jüdischen Gemeinde in der Vergangenheit. Nach der Schoa nimmt sich in diesen Städten ein Streifzug durchs jüdische Leben wie eine Schatzsuche aus: Der Reisende möchte Verborgenes, ja Verlorengegangenes entdecken. In London ist das anders. Aus historischen Gründen gibt es hier eine der größten und lebendigsten jüdischen Gemein- den Europas.
Von den eher säkularen Gemeinden in St. John’s Wood und Hampstead führt Evelyn Steinthalers Handbuch Jüdisches London über die Zentren jüdischen Lebens in Golders Green, Hendon und Edgware bis hin zum chassidisch-orthodoxen Stamford Hill im Nordosten der Stadt. Nützlich ist vor allem das Kapitel »Einrichtungen jüdischen Lebens« am Ende des Buches. Es weist dem Besucher mit jüdisch gefärbtem Interesse den Weg von Synagogen bis zu koscheren Res- taurants und jüdischen Buchhandlungen.
Doch Jüdisches London ist nicht nur Reiseführer, sondern vornehmlich ein Kompendium jüdischer Geschichte und Fakten. Es bietet einen Abriss von 1.000 Jahren jüdischem Leben in Großbritannien: beginnend mit der frühen Sonderstellung als »King’s men« – Juden waren im englischen Feudalsystem, anders als alle anderen Bürger, direkt dem König unterstellt – über die Vertreibung durch Edward I. im Jahr 1290, die Neuansiedlung sefardischer Juden im 17. Jahrhundert bis hin zur jüdischen Emanzipation und den Einwanderungswellen aus Kontinentaleuropa im Victorianischen Zeitalter sowie im »Dritten Reich«. Auch Londons Rolle als ein entscheidendes Zentrum des frühen Zionismus und Ort der Balfour-Deklaration kommt nicht zu kurz.
Ausführlich stellt Steinthaler ebenfalls die wichtigsten jüdischen Persönlichkeiten vor, unter ihnen die deutschsprachigen Flüchtlinge Karl Marx, Sigmund Freud und Stefan Zweig. Denn ohne Menschen wie sie wäre die jüdische Geschichte der britischen Hauptstadt nicht vollständig erzählt.
Doch auch in London mit seinen weitläufigen jüdisch geprägten Gegenden im Nordwesten der Stadt muss die Schatzsuche nicht entfallen. Das liegt an den speziellen geografischen Gegebenheiten jüdischen Lebens in der Stadt. Wie keine andere Bevölkerungsgruppe hat die jüdische Gemeinschaft eine selbstgewählte Entwurzelung hinter sich. Das geschichtliche Urbild des Londoner Juden ist jenes aus dem Londoner Osten. Lange Zeit sprach man zu Recht vom Jewish East End, das im Handbuch ausführlich behandelt wird.
Die Gegend östlich der Londoner City – früher Zentrum der Stadt, heute ihr Bankenviertel – wirkte auf Neuankömmlinge schon immer wie ein Magnet. In ihren kleinen verwinkelten Straßen mischten sich Cockneys, Hugenotten und Juden. Ihnen allen war eins gemeinsam: die Armut. Mit dem sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg der Londoner Juden kam ihr Umzug. Nach dem Ersten Weltkrieg verließen sie allmählich den Londoner Osten und siedelten sich im bürgerlichen Nordwesten an. Zurück blieb ein Sammelsurium jüdischer Symbole, Gebäude und Geschichten. Steinthalers Handbuch und archäologischer Eifer helfen dabei, sie zu entdecken. Wer es gern mund- gerechter mag, kann sich die Tour durch das ehemals jüdische Whitechapel von verschiedenen Reiseanbietern (zum Beispiel www.londonjewishtours.com) servieren lassen, die kompetent und unterhaltsam durch dieses Atlantis des Judentums führen.
Einer der Höhepunkte eines East-End-Besuchs ist zweifelsohne die Besichtigung der Bevis-Marks-Synagoge auf der gleichnamigen Straße, gerade noch innerhalb der Grenzen der City. Das Bethaus wurde 1701 von sefardischen Einwanderern aus Amsterdam erbaut, gilt als älteste durchgängig betriebene Synagoge der Welt und enthält viele Schätze. Im gemeindeeigenen Restaurant kann man den Fußmarsch durch den Londoner Osten mit einem koscheren Essen ausklingen lassen.
Zurück im Nordwesten gibt es so manche im Handbuch beschriebene Attraktion, die jedem Touristen sehr zu empfehlen ist – vom atem- beraubend schönen Friedhof in Highgate (mit dem Grab von Karl Marx) bis hin zum Freud-Museum im ehemaligen Wohnhaus des Psychologen in Hampstead. Wer dann nach einem langen Tag in Europas größter Stadt spätabends noch Hunger verspürt, dem kann geholfen werden: »Carmellis« in Golders Green ist Londons bekannteste jüdische Bäckerei. Sie ist wochentags bis ein Uhr morgens und nach Ende des Schabbats die ganze Nacht hindurch geöffnet. Hier trifft sich Londons vergnügungssüchtige jüdische Jugend am frühen Sonntagmorgen bei Bagels und Pizza.
Das Handbuch beginnt mit einem Satz von Heinrich Heine: »Ich habe das Merkwürdigste gesehen, was die Welt dem staunenden Geiste zeigen kann, ich habe es gesehen und staune noch immer – noch immer starrt in meinem Gedächtnisse dieser steinerne Wald von Häusern und dazwischen der drängende Strom lebendiger Menschengesichter mit all ihren bunten Leidenschaften, mit all ihrer grauenhaften Hast der Liebe, des Hungers und des Hasses – ich spreche von London.« Mit Hilfe dieses Buches kann mancher Londonbesucher mit ähnlich starken Eindrücken zurückkehren.

evelyn steinthaler:
jüdisches london
Mandelbaum, Wien 2008, 172 S., 15,80 €

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