von Rabbiner Joel Berger
In der Parascha für diesen Schabbat erscheint der erste Jude: Awram. Er ist auch der erste jüdische »Neueinwanderer« im Heiligen Land. Das Wort G’ttes wies ihn an: »Gehe aus deinem Lande fort, in das Land, das ich dir zeigen werde (1. Buch Moses 12,1). »Verlasse dein Geburtsland, dein Vaterhaus« und ziehe in die Fremde, in das Unbekannte. Unsere Weisen sahen in dieser Aufforderung eine harte Prüfung. Awram wurde befohlen, jegliche Bindungen abzubrechen, die seine Mission im Land der g’ttlichen Verheißung hätten behindern können. Im vergangenen Jahrhundert, dem »Jahrhundert der Emigranten«, zeigten wir für den Erzvater unseres Volkes vielleicht noch mehr Verständnis als in früheren Zeiten in den Ländern des alten Europa, in dem sich unsere Vorfahren in Frieden wähnten. Die Emigranten, die Vertriebenen unserer Zeit jedoch, wenn sie auch häufig alles, was sie mit ihrer Heimat verband, zurücklassen mussten, sie hatten nicht selten die rettenden Ufer, oftmals ihr Wohlergehen und Frieden nach der Verfolgung erreicht. Nicht so Awram.
Der Erzvater hatte damals das führende Land der antiken Zivilisation, Babylonien, allein auf G’ttes Geheiß verlassen. Ein Reich mit weitentwickeltem Handel, Kultur und Gesellschaft. Kanaan, das Land, wohin er zog, war dünn besiedelt. Seine Einwohner waren einfache, gierige, geizige Hirten, die oft auch gewalttätig wurden. Auf das Schicksal Awrahams blickend, zitieren wir häufig aus der rabbinischen Literatur: »Ma’asse Awot Siman lebanim« – die Geschichte, die Erlebnisse der Ahnen verfolgen die Nachfahren und wiederholen sich auch des öfteren in ihrem Leben. So also auch die Wanderungen in der klassischen wie auch modernen Geschichte unseres Volkes.
Awram und seine Frau Saraj durchleben auch nach der g’ttlichen Botschaft mehrere harte Proben: Hungersnot treibt sie für eine Weile nach Ägypten, wo Saraj eine kurze Zeit sogar im Harem des Pharao verbringen muss. Awram ist verängstigt, dass man ihn wegen seiner Frau »aus dem Weg räumen« könnte. Daher bezeichnet er sich selbst als den Bruder der schönen Frau und nicht als deren Gatte.
Der Herrscher erfuhr jedoch, dass es sich bei Saraj um eine verheiratete Frau handelte. Wütend macht er Awram Vorwürfe. Er fühlt sich betrogen: »Was hast du mir angetan?«, fragt er, in seiner Ehre gekränkt. Vermutlich galt es damals und dort als besonders gemeiner Betrug, wenn man dem herrschaftlichen Harem keine Jungfrauen zuführte. »Warum sprachst du denn, sie wäre deine Schwester? Derhalben ich sie mir zum Weibe nehmen wollte. Und nun siehe, da hast du dein Weib; nimm sie und ziehe hin.« (1. Buch Moses 12,19). So endete Awrams »Asylgesuch« in Ägypten. Einen Ort der Sicherheit zu finden, war schon für den ersten Juden nicht leicht.
»Nach diesen Begebenheiten erging das Wort des Ewigen an Awram, wie er vor der Bundesschließung mit G’tt hieß: »Fürchte dich nicht, Awram. Ich bin dein Schild« (1. Buch Moses 15,1). Wovor fürchtete sich Awram? Warum richtete G’tt diese beruhigenden Worte an ihn?
Seit er das Wort seines selbsterkannten und gewählten Herrn befolgte, hatte Awram wenig Erfreuliches und Gutes erlebt. Kindersegen hatte sich bei Saraj noch nicht eingestellt, dafür zwangen die widrigen Verhältnisse Kanaans Awram, nach seiner Rückkehr aus Ägypten einen Krieg zu führen, um die Befreiung seines Neffen Lot zu erzwingen.
Es gelang ihm, Lot zu befreien und seine Gegner zu befriedigen, indem er auf jegliche Kriegsbeute verzichtete und zu seinen Verbündeten sprach: »Ich (will) von allem, was dein ist, nicht einen Faden noch einen Schuhriemen nehmen, dass du nicht sagst, du hast Awram reich gemacht« (1. Buch Moses 15,23). Jedoch hatte er in diesem Krieg Gewalt ausgeübt, und fürchtete, dass sein Herr ihn dafür verstoßen könnte. Daher die g’ttliche Zusicherung: »Fürchte dich nicht!«
Da also nichts zu befürchten war, wurde Awram etwas mutiger: Wie steht es mit meinen Nachfahren? Wo bleibt der Kindersegen? Die Antwort G’ttes wird bis heute hoffnungsvoll zitiert: »,Schau doch auf zum Himmel und zähle die Sterne, wenn du sie zählen kannst! [...] So zahllos sollen deine Nachkommen sein!‹ Und Awram glaubte an den Herrn, und Er rechnete es ihm als Tugend an« (1. Buch Moses 15, 5-6). Daher ist Awram, der später Awraham heißen wird, unser Vater, vor allem im Glauben.
Im Leben und Wirken Awrahams war der Glaube keine leere Hülle. Awraham lebte ihn durch sein Handeln. Aus dem Glauben ließ er sich leiten und seinen Weg durch sein Verhalten im Leben bestimmen. Friedfertigkeit und Nachgiebigkeit ließ er seinem Neffen Lot gegenüber walten, als dieser sich das fruchtbare und bessere Land bei ihrer Niederlassung in Kanaan wählen durfte.
Nachdem der Herr mit Awram einen Bund geschlossen hatte, sagte Er: »Darum sollst du nicht mehr Awram heißen, sondern Awraham soll dein Name sein; denn ich habe dich gemacht zum Vater vieler Völker« (1. Buch Moses 17,5). Die Rabbinen nennen ihn »Lehrer der Völker«. Als seine Schüler können all diejenigen gelten, die seine Tugenden nachahmen. Vor allem den guten Willen gegenüber anderen Menschen und seine Bescheidenheit.
Wir und all diejenigen, die seine Tugenden ausüben wollen, gelten als die Kinder Awrahams. Die Konvertiten betrachten wir ebenso als Awrahams Kinder wie wir uns selbst. Sie genießen die gleichen Rechte, müssen die gleichen Pflichten wie ein jeder von uns erfüllen. Den immer währenden Bund, den G’tt mit Awraham geschlossen hat, tragen jüdische Männer als Bundeszeichen durch die Beschneidung ein Leben lang. Das Gebot der Brit Mila schließt die Parascha ab.
Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.