von Wolf Scheller
»Ich bin verliebt in die deutsche Sprache« ›antwortet Zibulsky auf die Frage, wer denn seine Geliebte sei. Zibulsky, der Protagonist in Edgar Hilsenraths gleichnamiger Satirensammlung, ist ohne Zweifel der Autor selbst, der uns immer wieder erzählt hat, was die Sprache Döblins und Kafkas für ihn bedeutet, den Schoa-Überlebenden, dessen literarisches Werk im deutschsprachigen Raum keinerlei Entsprechung hat. Edgar Hilsenrath, der mittlerweile 82 Jahre alt ist, hat die erbarmungs- und kompromissloseste Holocaustliteratur geschaffen, die die deutsche Sprache kennt.
Er erzählt Ungeheuerliches – nicht von Tätern, sondern von den Opfern. Sie sind nicht edel, keine Vorzeigejuden. Im Elend des Ghettos werden sie zu reißenden Naturen. Ranek, die Hauptfigur in Hilsenraths 1964 erschienenen Roman Nacht, wird zum Peiniger seiner Mitopfer, will überleben – um jeden Preis. Er meißelt sogar den totenstarr verschlossenen Mund seines Bruders mit einem Hammer auf, um sich in den Besitz eines Goldzahns zu bringen. Der Leser wird gezwungen, die Perspektive Raneks einzunehmen, der keine Moral mehr kennt, wenn er dem für ihn vorgesehenen Tod etwas entgegensetzen muss. Das alles erzählt ohne jede Rücksichtnahme, auch ohne jedes Pathos ein Autor, der als 15-Jähriger in ein Ghetto in der Ukraine verschleppt, von den Russen befreit wurde, sich dann selbst wieder von den Russen befreien musste und in einer abenteuerlichen Flucht über Palästina und Frankreich nach Amerika kam, wo er bis 1975 lebte, um dann nach Deutschland umzusiedeln.
Nacht, Hilsenraths Romanerstling, ist Teil einer zehnbändigen Werkausgabe, die der kleine, aber ambitionierte Berliner Dittrich-Verlag jetzt komplett vorlegt. Helmut Braun, der Herausgeber, begleitet jeden Band mit klugem Kommentar und wichtigen Erläuterungen. Christian Lang hat die Bücher mit gelungenen farbigen Zeichnungen illustriert.
Zu rühmen ist das verlegerische Risiko, sich für einen Autor zu engagieren, der trotz internationaler Anerkennung von den großen Verlagen in der Bundesrepublik anfangs nur mit spitzen Fingern angefasst wurde. Nacht, das in den USA zur Schullektüre wurde, erschien hier in einer Auflage von 1.250 Stück. Einer breiten Leserschaft wurde der Überlebenskampf des jungen Ranek, den der Autor aus selbst Erlebtem beschrieb, erst durch eine Neuauflage 1978 bekannt, nachdem Hilsenrath mit dem Roman Der Nazi und der Friseur einen Bestseller gelandet hatte. Ein »halbjüdischer« Friseurgehilfe mausert sich im KZ zum em- phatischen Anhänger Hitlers, wird Mitglied in der SS und schlüpft nach dem Krieg in die Identität eines jüdischen Friseurs und Freundes namens Finkelstein, den er höchstpersönlich samt Familie umgebracht hat. Der falsche Finkelstein geht nach Palästina, kämpft gegen die Engländer und wird zum zionistischen Volkshelden.
Hilsenraths Romanen gemeinsam ist das semi-autobiografische Moment. Sie verarbeiten nicht nur seine Erlebnisse im Lager und danach im jungen Israel, sondern wie in Bronskys Geständnis, später unter dem Titel Fuck Amerika erschienen, auch seine Enttäuschung über das Leben in den USA, die er für das den Juden verheißene Paradies gehalten hatte.
Hilsenraths lakonisch-tonlose Art des Erzählens ist nicht der Ausdruck schöngeistiger Empathie. Illusionslose Weltsicht und schwarze Erinnerungsmetaphorik, Scherz und Entsetzen sind seine Stilmittel. Er schreibt naturalistisch – und im Wortsinn schrecklich komisch. Das gilt ganz besonders für den Roman Gib acht, Genosse Mandelbaum, der jetzt in der Werkausgabe den brutalen Titel Moskauer Orgasmus trägt. Hilsenrath hat diesen Thriller 1979 geschrieben. Es ist sicherlich nicht sein bestes Werk, wohl aber eines seiner witzigsten, ein vulgärer Spaß, den der Autor seinem Publikum serviert. Angeblich hat Otto Preminger das Buch gemocht, in dem es unablässig um rüdesten Sex geht. Auf eine Verfilmung hat der Starregisseur aus Hollywood dann doch verzichtet.
Edgar Hilsenrath kann aber auch ganz anders. Das Märchen vom letzten Gedanken heißt ein Buch von ihm, das in thematischer Nachbarschaft zu Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh steht. Es geht um den 1915 von den Türken verübten Völkermord an den Armeniern, den Hilsenrath antizipatorisch als eine Art Vorläufer der Schoa darstellt. Sein armenischer Protagonist Wartan Khatisian landet nach seiner Flucht vor den Türken in der deutschen Todesmaschinerie. Soll heißen: Die Nazis konnten es eben besser.
In Die Abenteuer des Ruben Jablonski sagt eine Lehrerin im Kibbuz zu dem jungen Überlebenden: »Über das Ghetto kann man keinen Roman schreiben.« Jablonski, Hilsenraths Alter Ego widerspricht ihr: »Doch, das kann man.«
edgar hilsenrath: werkausgabe
in zehn bänden
Herausgegeben von Helmut Braun.
Dittrich, Berlin. 198 €