Text und Fotos von Rick Nahmias
In den 20er- und den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts waren die Catskill Mountains im US-Bundesstaat New York ein beliebtes Urlaubsziel. Beinahe eine Million Städter zog es jeden Sommer in die Dörfer und ausladenden Hotelanlagen 140 Kilometer nördlich von Man- hattan. Da Juden an den meisten anderen Ferienorten in den Vereinigten Staaten aufgrund des damals herrschenden Antisemitismus abgewiesen wurden, riefen sie in den Catskills eine eigene Urlaubsgemeinschaft ins Leben. Sommerfrische für jüdische Mittelstandsfamilien.
Doch dann kamen die günstigen Flugreisen auf, und die offenkundige Diskriminierung nahm ab. Der Popularität der Region kam das nicht zugute – sie ging in den späten 60er-Jahren zurück. Anfang der 80er-Jahre machten die meisten Hotels und Feriendörfer in den Catskills dicht. Aber eine Kolonie trotzte dem Trend: die Four Seasons Lodge. 1979 erwarben rund 100 osteuropäische Juden, Überlebende der Nazi-Todeslager, etwa 18 Hektar Land in der Nähe der Kleinstadt Ellenville, um einen eigenen idyllischen Zufluchtsort zu errichten. Daraus wurde eine Feriengemeinde, in der all jene, die sich bis dahin selbst unter amerikanischen Juden als Außenseiter empfunden hatten, sofort verstanden und willkommen geheißen wurden. Ein Ort, an dem man sich entspannen und Geschichten über die grauenvolle Vergangenheit austauschen konnte, ohne andere damit aus der Fassung zu bringen oder zu langweilen. »Ich fing an, in die Berge zu fahren, als unsere Kinder klein waren. Wir waren praktisch jedes Jahr dort, immer in der gleichen Gruppe. Das war nicht geplant, einer zog den anderen nach. Die meisten waren Holocaust-Überlebende, und so kamen wir miteinander ins Gespräch«, erinnert sich Carl Potok, Auschwitz-Überlebender und ehemaliger Vizepräsident der Four Seasons.
Dreißig Jahre lang hat er mit seiner Großfamilie regelmäßig die Zeit zwischen Mai und Anfang September in der Kolonie verbracht. Sie war ein zweites Zuhause geworden. Man spielte Karten, lag auf dem Rasen, flirtete, witzelte oder diskutierte über Politik. Und jeden Samstagabend gab es eine Party mit Live-Entertainment. Aber es ging auch jüdisch zu. Der Schabbat wurde gehalten, Hochzeiten wurden gefeiert und so manche Barmizwa.
Von Anfang an verfolgte die Gruppe das Ziel, eine Umgebung zu schaffen, in der sich jedermann willkommen fühlte. Aber es gab für das Zusammenleben auch besondere »Zehn Gebote«, die im Hauptgebäude an der Wand hingen. Sie enthielten Mahnungen wie »Lebt wie eine Familie! Bildet keine Cliquen!« oder »Verhalte dich nicht wie ein Mieter, du bist hier der Vermieter!« So fanden zum Beispiel die beliebten abendlichen Kartenrunden im Hauptgebäude statt und nicht in den einzelnen Bungalows, um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken.
Trotz ihrer ansteckenden Lebensfreude beschloss die Gruppe vor zwei Jahren mehrheitlich, aufgrund des fortgeschrittenen Alters ihrer Mitglieder und des zunehmenden Verfalls der Anlage die Kolonie zu verkaufen und sich aufzulösen. Vor einigen Wochen wurden die letzten Bungalows leer geräumt, an der Tür des Hauptgebäudes ein Vorhängeschloss angebracht. Es war ein ganz besonderer Abschied. »Ich liebe die Menschen, ich liebe den Ort. Ich werde jede einzelne Minute dort vermissen«, fasste Betty Elkes die Gefühle aller zusammen. Sie selbst hatte jeden Sommer mit ihrem Mann in der Four Seasons Lodge verbracht – 28 Jahre lang.
Bei meinem letzten Besuch der Anlage bemerkte ich auf einem Grundstück ein Motto, eingelassen in die Buntglasscheibe der winzigen Synagoge, das die Bedeutung der Four Seasons vielleicht am besten beschreibt: Aus der Asche zum Leben.