Wie alt ist der Brauch, am 9. Aw zu fasten? Diese und andere Trauergebräuche, »wie beim Tode eines nahen Verwandten«, sind seit Jahrhunderten Tradition, und sollen im babylonischen Exil entstanden sein. An diesem bedeutendsten Trauertag des Jahres, teils auch schon in den drei Wochen zuvor, müssen gläubige Juden auf jede körperliche Wohltat verzichten. »Am 9. Aw sind nicht nur Essen und Trinken religionsgesetzlich verboten«, heißt es im Jüdischen Lexikon (Berlin, 1927) mit Verweis auf den Talmud (Taanit 30a). Auch das »Baden, Salben und Anlegen von Schuhwerk« sei nicht er-
laubt. Und wer an diesem Tag Arbeit verrichtet, dürfe von ihr keinen Segen erwarten. »Selbst das Studium der Tora ist untersagt, weil es erhebend und erquickend wir-
ke; nur solche Stücke aus Bibel und Talmud dürfen gelesen werden, die traurige Gefühle anregen.«
Erinnert wird damit an die zahlreichen Tragödien, die das jüdische Volk an diesem Tag erlebt hat: der Sündenfall im Zusam-menhang mit der Aussendung der Kundschafter, der die 40-jährige Wüstenwanderung zur Folge hatte, der Fall der Festung Betar (135) oder die Vertreibung der Juden aus Spanien (1492). Zentrale Ereignisse sind die Zerstörung des Ersten (586 v.u.Z.) und des Zweiten (70 n.u.Z.) Tempels in Je-
rusalem.
Der Rambam (Maimonides, 1135-1204) weist darauf hin, dass die Tradition des Fastens schon zu Zeiten galt, als der Zweite Tempel noch existierte. Talmud-Forscher David Henshke von der israelischen Bar-Ilan-Universität hat auf diesen »überraschenden« Widerspruch hingewiesen: Wa-
rum wurde um den Tempel getrauert, ob-
wohl das Jerusalemer Heiligtum noch in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit stand? Zumindest war er doch wieder aufgebaut worden.
Henshke verweist darauf, dass an Tischa be Aw nicht nur die physische Zerstörung des Tempels betrauert wird: »Wir trauern, weil wir uns unter fremder Herrschaft befinden.« Es sei das Beklagen der Abwesenheit von politischer und spiritueller Unabhängigkeit.
Und Henshke erläutert, dass der Fall des Ersten Tempels auch als Beweis dafür diene, dass G-tt sein Haus zerstören und sein Volk ins Exil schicken würde. »Niemals mehr konnten Menschen ihr Vertrauen in Holz und Stein setzen, nicht einmal in die Steine des Tempels.« Von nun an ruhte die Verantwortung auf den Schultern der Menschen und ihres Verhaltens. »Wenn sie es verdienen würden, könnten sie in ihrem Land, im Schatten des Tempels leben. Wenn nicht, würde der Tempel fallen.«
Rabbiner Berel Wein hat in einem Text für die Jerusalem Post (»Remembering sadness«, 2007) darauf verwiesen, dass im jü-
dischen Leben die Erinnerung einen ganz besonderen Platz einnimmt – von der Jahrzeit nach dem Tod eines Einzelnen bis hin zum Gedenken der Schoa, dem Mord an sechs Millionen Juden. Entgegen der menschlichen Psyche, die schmerzliche Ge-
danken vergessen machen will, hat das jü-
dische Volk gelernt, auch im Kollektiv zu trauern. »Sich an Verluste und Niederlagen zu erinnern, ermöglicht es, auch Siege und andere Errungenschaften zu würdigen«, meint Rabbi Wein.
So gilt auch für diesen Tischa be Aw: »Jeder, der um Jerusalem trauert, hat den Verdienst, sie in der Zeit ihrer Freude sehen zu dürfen. Und der nicht um Jerusalem trauert, wird sie nicht in der Zeit ihrer Freude sehen« (Talmud, Taanit 30b).
Detlef David Kauschke (Foto: Flash 90)
Tischa be Aw