Herr Berger, Sie sind einer der wenigen Rabbiner, die ihre Fußball-Leidenschaft offen ausleben. Wie ist das, wenn Ihr Lieblingsklub Werder Bremen am Schabbat spielt?
berger: Da leide ich. Besonders im Sommer, weil der Schabbat länger ist. Aber ich halte es durch, meist habe ich an Schabbat ja auch genug zu tun. Zu Beginn meiner Zeit in Stuttgart gab’s Leute, die mir das Werder-Ergebnis immer zugesteckt haben. Zum Glück kann man nach Schabbatausgang noch irgendwo die Spiele sehen.
Hat Ihre Frau dafür Verständnis?
berger: O, meine Frau ist ganz wunderbar, und auch an diesem Punkt sehr verständnisvoll. Wir waren schon mehr als 20 Jahre verheiratet, als sie meine Leidenschaft richtig begriffen hat. Seitdem hat sie ein gewisses Interesse. Wenn ich samstags nachmittags nervös werde, beruhigt sie mich, und sagt mir voraus, ob Werder gewinnen wird. Meistens hat sie recht, obwohl sie keine Ahnung hat. Dafür ist sie sehr an Musik interessiert. Damit kann ich wiederum nichts anfangen.
Schließt sich das gegenseitig aus?
berger: Ich finde ja. Fußball hat eine eigene Melodie. Denken Sie daran, wie oft man bei einem Fußballspiel singt und wie man singt, als Massenchor. Meine erste Liebe war Ferencvaros Budapest. Ein Verein von Kleinbürgern, Handwerkern, auch jüdischen Handwerkern, aus dem 9. Bezirk. Nach einem ge- wonnenen Spiel sang die ganze Tribüne.
Warum eigentlich Ferencvaros? Gilt in Budapest nicht MTK als jüdischer Klub?
berger: O ja, die Blau-Weißen vom MTK. Der Präsident war zu Glanzzeiten ein ungarischer Jude, Alfred Grünlein, ein reicher Fabrikant. Aber in der Mannschaft war nur ein einziger Jude, und der war getauft. Einige Spieler waren rechtsgerichtete sogenannte erwachende Ungarn, die später auch aktive Faschisten waren. Das war eine interessante Konstellation. Bei meinem Klub saßen damals nicht wenige orthodoxe Juden auf der Tribüne, aber gleichzeitig gibt es bis zum heutigen Tag ein Publikum, das die übelsten antisemitischen Sprüche klopft. In der Mannschaft dagegen hat nie ein Faschist gespielt, dafür aber Juden.
Hat sich Ihr Verhältnis zum Verein durch das Publikum verändert?
berger: Nein. Man muß die Struktur in Ungarn kennen. Die Kleinbürger, die Handwerker, die Arbeiter – die Mittelschicht ist antisemitisch. Nicht nur bei Ferencvaros, aber dort schreien sie es raus. Fußball ist ein Ventil, vor allem in Zeiten der Diktatur. Im Stadion konnte man böse, ätzende, rassistische und judenfeindlichen Sprüche von sich geben. Daran hat sich nichts geändert.
Wie alt waren Sie bei Ihrem ersten Spiel?
berger: Drei oder vier, mein Vater hat mich mitgenommen. Zunächst hatte ich Schwierigkeiten, ich dachte immer, dass dieser »Fraji« – der Kosename des Klubs – eine Person ist. Mein Vater hat mir erst erklären müssen, daß es elf sind. Können elf einer sein?
Offenbar. Ist das der Grund, warum Sie sich ausgerechnet für Fußball entschieden haben, statt, sagen wir, für Tennis?
berger: Das ist etwas ganz anderes, so wie klassische Musik und Jazz. Fußball hat seine Faszination tatsächlich durch zwei kämpfende Mannschaften, durch die Kombination aus deren Gedanken und Tricks. Alles andere kann auch schön sein, interessant, aufregend – aber Fußball ist durch nichts zu ersetzen. Zum Fußball sind die Ungarn in den 40er Jahren gekommen, in einer Zeit, als die Lage aussichtslos war. So war es auch nach dem Krieg unter den Kommunisten. Der Fußball war die einzige Möglichkeit, frei zu kommunizieren. Die Fahrt ins Stadion, anderthalb Stunden Spiel, die Rückfahrt – das war Freiheit.
Sie haben als Jugendlicher nicht irgendeinen Fußball gesehen, sondern den wohl besten, der in Europa gespielt wurde …
berger: Stimmt. Hier kennt man meist nur die 54er Mannschaft, die das WM-Finale in Bern gegen die Deutschen verloren hat. Aber das war ein Ausrutscher. Leider war die Mannschaft damals nach parteipolitischen Kriterien zusammengestellt. Außerdem hat der Trainer Ferenc Puskas trotz Verletzung spielen lassen. Das war ein fataler Fehler, weil man nicht auswechseln durfte. Die Ungarn waren sich so sicher, daß sie ihren Kapitän unbedingt aufstellen wollten, damit er selbst die Goldmedaille in Empfang nehmen kann.
Pech gehabt.
berger: Leider. In Ungarn wurde schöner, intelligenter Fußball gespielt. Bei Ferencvaros standen drei Spieler mit Doktortitel auf dem Feld. Aber die Krone konnten sich die Ungarn nie aufsetzen. Trotzdem ist das für mich noch immer der ideale Fußball, mit vier echten Stürmern. Wir haben England in Budapest 7:1 geschlagen!
Haben Sie selbst gespielt?
berger: Nur als Kind im Park, bis es dunkel war. Aber die Vorstellung, in einen Verein zu gehen, konnte ich nicht ertragen. Ich wollte mir nicht vorschreiben lassen, wann und wie ich den Ball abzuspielen habe.
Seit Sie in Deutschland leben, ist Bremen Ihr Lieblinsklub …
berger: Es ist nicht nur Werder, es ist die ganze Stadt. Wir sind 1972 aus Schweden, einem Land, in dem ich mich elend gefühlt habe, nach Bremen gekommen. Die Stadt hat einen offenen, freiheitlichen, republikanischen Geist. Damals war Hans Koschnik Bürgermeister, dessen Vater im selben KZ wie mein Vater war. Ich weiß noch, wie eines Tages eine uns unbekannte alte Frau in die Synagoge kam. Sie erzählte, daß sie in der Nähe von Bremen in einem Außenlager von Bergen-Belsen gewesen war. »Und deshalb kommen Sie hierher zurück?« fragte ich. Sie antwortete: »Junger Mann, Sie wissen nicht, wie die Bremer waren. Jeden Tag, wenn wir zur Arbeit geführt wurden, haben uns die Leute hinterm Rücken der SS Pakete mit Essen zugeworfen. Andere riefen uns in ihre Wohnung, angeblich zum Aufräumen, um uns dort Milch und Brote zu geben. Diese Leute will ich wiedersehen.« Auch deshalb habe ich für Bremen und seine Bürger große Sympathie.
Wie kamen Sie von der Stadt zum Klub? Ich lebe seit Jahren gerne in Berlin, aber mir fiele nie ein, Sympathie für Hertha zu entwickeln …
berger: Völlig klar. Wir haben nicht weit entfernt vom Weserstadion gewohnt. Wenn ich mich samstags nachmittags etwas hingelegt habe, konnte ich die Geräusche hören, das Aufheulen der Zuschauer noch einem Tor oder einer verpaßten Chance. Ich konnte mir am Geräuschpegel ausrechnen, wie es ausgegangen war. Mich hat das mit dem Klub verbunden, außerdem ist Werder grün-weiß, genau wie Ferencvaros. Ich wurde Fan, ohne das Team im Stadion gesehen zu haben, wegen Schabbat. Es gab damals einen Text über mich in der Zeitung: »Dieser Mann darf Werder nie sehen, trotzdem ist er ein großer Fan«.
Die Sonntagsspiele um 17.30 Uhr, die die meisten Fans hassen, lieben Sie also?
berger: Sie sind ein Geschenk! Genau wie Spiele in der Woche. Wenn Werder an so einem Tag hier in Stuttgart spielt, bekomme ich immer eine Ehrenkarte, obwohl man weiß, daß ich Bremen-Fan bin. Das weiß ich sehr zu schätzen. Auch als neulich Ferencvaros im Uefa-Pokal in Stuttgart spielte, wurde ich eingeladen. Allerdings habe ich mich für meinen Klub geschämt. Nicht nur, weil wir 2:0 verloren haben, sondern weil ein derart schlimmes Publikum aus Ungarn mitgekommen ist, daß noch Tage nach dem Spiel die Gefängnisse voll waren mit Ferencvaros-Fans. So mies haben die sich hier benommen.
Manche vermissen die alten Zeiten in den Stadien: Erdiger Geruch, Stehplätze, Bratwurst. Sie rümpfen die Nase über Logen mit exquisiter Küche. Sie auch?
berger: Nein, ich komme ja nicht zum Essen, sondern, um das Spiel zu genießen, um Leute zu treffen, zu fachsimpeln. Was ich vermisse, ist der volkstümliche Humor, der in Ungarn üblich war. Da wurden Sprüche aus einem falschen Schiedsrichterpfiff oder einem anderen Ereignis gemacht, die dann wochenlang Thema waren im Viertel. Das ist in Deutschland nicht so ausgeprägt.
Ist Ihnen mal so ein Spruch gelungen?
berger: Mitte der sechziger Jahre, ich war gerade frisch als Rabbiner ordiniert, spielte Ferencvaros gegen MTK. Der damalige Oberrabbiner, Dr. Salgo, war MTK-Fan und saß sehr siegessicher im Stadion. Wir haben aber überraschend ganz früh mit 0:2 geführt, woraufhin der Oberrabbiner wütend aufstand, um nach Haus zu gehen. Da habe ich gerufen: »Herr Oberrabbiner, was ist los? Gefällt Ihnen das Spiel nicht mehr?« Es gab ziemliches Gelächter im Block.
Lassen sich Rabbineramt und Fußball verbinden? Verwenden Sie Erkenntnisse aus dem Sport in Predigten?
berger: Im Unterricht mache ich das häufig. Denn ich weiß, daß ich Jugendlichen damit komplizierte Zusammenhänge besser erläutert kann. Ich erinnere ich mich auch, daß ich bei einem Barmizwa-Gottesdienst für einen Jungen, der sehr fußballbegeistert war, das Judesein mit der Welt des Fußballs verglichen habe. Wir Juden haben noch so ein altes Trikot, ohne Werbung, und wir engagieren uns für unsere Farben von ganzem Herzen. Was ich außerdem als einen »jüdischen« Charakter dieses Sports empfinde, ist die Tatsache, daß ein kleiner, listiger Spieler einen physisch überlegenen Gegner überwinden kann. Das gibt es nicht so oft im Leben. Aber in Predigten für Erwachsene halte ich solche Vergleiche nicht für dienlich. Alles hat seinen Platz und seine Zeit.
Das Gespräch führte Tobias Kaufmann