von Larry Luxner
Herbst in Taipeh. Der Sturm peitscht gegen die Mauern der kleinen Ladensynagoge im Zentrum der Hauptstadt Taiwans, und der Wind heult. Acht Männer, vom Regen durchnässt, haben sich versammelt, um den Schabbat zu begrüßen. Obwohl sie keinen Minjan zusammenbekommen, leitet der 89-jährige Rabbiner Ephraim Einhorn den Gottesdienst an diesem Freitag, wie er es seit 1975 beinahe jeden Freitag und Samstag tut. Am Ende spricht Einhorn den Kiddusch und lädt die anderen Männer zu frisch gebackener, in Honig getunkter Challa ein – und fragt sie nach ihren Namen und woher sie kommen.
Dieses Ritual hat Don Shapiro, der aus den USA stammt und seit 38 Jahren in Taiwan lebt und arbeitet, schon oft erlebt. »Normalerweise will Rabbi Einhorn den Namen wissen, wo man geboren wurde und was man beruflich macht.« Eine solche Intimität ist möglich, weil nur noch wenige Juden in Taiwan leben. Die meisten von ihnen sind Ausländer – hauptsächlich Amerikaner, Israelis, Briten und Franzosen, die als Fabrikmanager, Finanzberater, Englischlehrer und Fremdenführer arbeiten. »Als ich hier anfing, kamen jeden Schabbat 80 bis 100 Menschen«, erzählt Einhorn, der in Wien geboren wurde und früher Leiter der Informationsabteilung des Jüdischen Weltkongresses war. »Die meisten waren syrischer Herkunft, also benutzten wir sefardische Siddurim. Jetzt haben wir aschkenasische Gebetbücher. Ich weiß von einer Woche zur nächsten nicht, wie viele Leute noch aufkreuzen werden.«
Vor Einhorn gab es jüdische Gottesdienste in Taiwan nur in der US-Militärkapelle. Nachdem das amerikanische Militär das Land verlassen hatte, wurde der Gottesdienst bis vor einigen Jahren im Fünf-Sterne-Hotel Landis abgehalten. Heute nutzt Einhorn ein winziges Büro im Erdgeschoss eines Anbaus des Hotels als Synagoge. Kleiner als ein Wohnzimmer ist es mit dem Toraschrein, Bücherregalen, einem Dutzend schwarzen Stühlen und einem Esstisch, auf dem sich Siddurim und Zeitungsausschnitte stapeln, vollgepackt. An Rosch Haschana und am Pessach-Abend werden Gottesdienst und gemeinsames Abendessen im American Club abgehalten. An solchen Tagen kommen etwa 50 bis 60 Menschen. In der übrigen Zeit ist Einhorn eine One-man-Show und unangefochtener Experte in Sachen Judentum. »Ich bin der Rabbiner, der Schamasch und der Schatzmeister«, sagt Einhorn, der 1975 als Leiter einer kuwaitischen Geschäftsdelegation nach Taiwan kam.
Routiniert verteilt der zum Rabbiner gewandelte Geschäftsmann acht unterschiedliche Visitenkarten: Er ist Vorsitzender von Pickwick Co. Ltd., Direktor der »Republikaner im Ausland«, Sektion Taiwan, Erster Vizepräsident des World Trade Center in Warschau, Vertreter der polnischen Handelskammer und Ehrenbürger von Nebraska und Montana. »Er hält die jüdische Gemeinschaft hier zusammen«, sagt William Ting, ein in Taiwan geborener Rechtsanwalt, der in Kalifornien aufwuchs und vor einem Jahr bei Rabbi Einhorn zum Judentum konvertierte.
Von den Schabbatgottesdiensten des fast 90-jährigen Rabbiners abgesehen, gibt es in Taiwan praktisch kein jüdisches Leben. Koscheres Essen findet man in diesem Land der Schweinefleischklöße und gebratenen Ochsenschwänze nur in Jason’s Supermarket im trendy Lebensmittelmarkt des Taipeih 101, dem zweithöchsten Gebäude der Welt, und im Landis, dessen Köche die Kaschrutvorschriften kennen.
Trotz der sinkenden Zahlen sagt William Ting dem jüdischen Leben in Taiwan eine leuchtende Zukunft voraus – »sofern die gegenwärtige Regierung von ihrem Beharren auf Unabhängigkeit ablässt und eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China anstrebt«. Dass es in naher Zukunft dahin kommt, ist unwahrscheinlich. Im September stellte Taiwans Präsident Chen Shui-Ban einen Antrag auf Mitgliedschaft in der UNO – jedoch ohne Erfolg.
Die florierenden Handelsbeziehungen, die China mit der ganzen Welt unterhält, versprechen nichts Gutes für Taiwans Bemühungen, offiziell als Staat anerkannt zu werden. Wie alle Länder, mit denen die Volksrepublik Handel treibt, hält auch Israel an seiner Ein-China-Politik fest. Der jüdische Staat nahm 1994 diplomatische Beziehungen zu China auf; im gleichen Jahr eröffnete er das Israel Economic and Cultural Office in Taipeh. »Taiwan ist einer unserer wichtigsten Handelspartner in Asien«, sagt dessen Direktor Raphael Gamzhou. »Die Menschen hier bringen Israel eine Menge Sympathie entgegen. Sie bewundern israelischen Mut und israelische Ausdauer und das Innovationsvermögen israelischer Hightech-Unternehmen.«
Die wenigen einheimischen Juden hier hoffen, dass der wachsende Handel mit Israel die jüdische Gemeinde Taiwans vor dem gänzlichen Aussterben retten wird. »Und direkte Flugverbindungen«, schwärmt Ting, »die würden Wunder tun für die jüdische Gemeinschaft.« Der Flug von Taipeh nach Schanghai dauert 40 Minuten. »Eine Menge qualifizierte jüdische Fachkräfte, die vom Smog in anderen asiatischen Städten die Nase voll haben, würden die Gelegenheit nutzen«, glaubt Ting.