Ein Boot legt an, die Sonne scheint. Unter den Bäumen vor der Anlegestelle ist es angenehm kühl, besonders jetzt, nach einem heißen Sommertag. Vor dem Hotel Estrel in Berlin-Neukölln sitzt ein Teil der israelischen Leichtathletik-Nationalmannschaft im Biergarten. Im Hintergrund der große Betonkasten, in dem etwa 2.000 Sportler aus mehr als 200 Ländern untergebracht sind. Ein Athletendorf, gut gesichert von Polizei und privaten Wachmannschaften, die vor den Eingängen und Tiefgaragen postiert sind. Auch das ist ein Grund, sich zum Interview mit dem israelischen Team lieber gleich im Biergarten zu verabreden. In das Hotel kommt man kaum hinein, bis zum israelischen Team stößt man erst recht nicht vor. Das Organisationskomitee der WM darf die Telefonnummer des israelischen Teamchefs nicht herausgeben.
risikoabschätzung »Bei uns ist eben immer alles anders, wenn wir zu internationalen Veranstaltungen fahren. Wir haben uns daran gewöhnen müssen, spätestens seit dem Anschlag auf unser Team bei den Olympischen Spielen von München 1972«, sagt Levi Psavkin, der Teamchef. »Anders« heißt zum Beispiel: Zwei Wochen vor der WM hatte Psavkin ein intensives Sicherheitsgespräch mit der israelischen Botschaft in Berlin. »Zur Risiko- abschätzung«, wie er sagt. Vor den acht Zimmern, die der israelischen Mannschaft im Estrel zugewiesen wurden, steht noch einmal ein zusätzlicher Beamter. Den hat die israelische Botschaft geschickt. »Wir fühlen uns hier sicher wie in einem Safe und haben keine Angst«, betont der 70-jährige Vizepräsident des israelischen Leichtathletikverbandes. 1964 hat Psavkin bei den Olympischen Spielen in Tokio sein Land im 100-Meter-Lauf vertreten. Damals war noch vieles anders, auch im Sport.
Das israelische Team ist eines der kleinsten, das bei der Leichtathletik-WM im Berliner Olympiastadion an den Start geht. Nur vier Sportler, zwei Trainer und der Teamchef haben sich in die deutsche Hauptstadt aufgemacht. Irena Lenskiy läuft die 100-Meter-Hürden, Wodage Zvadya den Marathon, Yevgeniy Olkhovskiy nimmt am Stabhochsprung-Wettbewerb teil, und Yochai Halevi ist für den Dreisprung gemeldet. »Ja, die israelische Leichtathletik steckt in einer ernsten Krise«, gibt Teamchef Psavkin zu. Ältere, erfolgreiche Sportler wie der Stabhochspringer und Europameister von 2002, Alex Averbukh, haben ihre Karriere beendet. Und die Neuen? »Die sind noch nicht so weit, dass sie hier bei der WM wirklich was gewinnen können«, ist sich Psavkin ganz sicher. Aber es stört ihn auch nicht. Es kommen auch wieder andere Zeiten.
»Erfahrung« ist ein Schlüsselwort, wenn man mit den israelischen Athleten redet, die ihr Land eine Woche lang in Berlin vertreten. Zum Beispiel mit dem Dreispringer Yochai Halevi. Erst am 2. August hat der 27-jährige Physiotherapeut aus Tel Aviv die vom israelischen Verband gesetzte Qualifikationsweite erreicht. 16,65 Meter punktgenau und keinen Zentimeter mehr ist er gesprungen. So weit wie noch nie zuvor. »Ich wusste, dass ich das drin habe. In Berlin werde ich versuchen, Erfahrung in einem großen Wettkampf zu sammeln«, gab er als sein persönliches Ziel an. Am Sonntag, dem zweiten Wettkampftag, war Yochai Halevi um eine ganz besondere Erfahrung reicher, eine bittere. Er kam zu spät zum Wettkampf und durfte nicht antreten.
Für Yevgeniy Olkhovskiy, den Stabhochspringer, ist 5,48 Meter als persönliche Bestleistung vermerkt. Zum Vergleich: Der Weltrekord steht bei 6,14 Meter. Das WM-Ziel des 25-jährigen Athleten klingt bescheiden, aber realistisch. »Wenn ich meine Höhe noch einmal packe, bin ich zufrie- den«, sagt er. Acht Monate im Jahr lebt und studiert er in Virginia/USA und die übrige Zeit in Tel Aviv. 1992 wanderte seine Familie aus dem ukrainischen Odessa nach Israel aus. »Meine neue Heimat«, wie er stolz erklärt. Olkhovskiy ist nur einer von vielen sportlichen Einwanderern.
Ohne die Athleten aus der ehemaligen UdSSR ginge es der Leichtathletik in Israel noch schlechter, als sie sich aktuell präsentiert. Die Einwanderer professionalisieren die Sportart, die in Israel nicht sonderlich populär ist. »Diese Athleten bringen Erfolg und Ehre für unser Land«, erklärt Teamchef Psavkin. Er klagt über den mangelnden Einsatz der israelischen Regierung für die Belange der Leichtathletik. In den Schulen vor allem, wo immer nur Basketball, Fußball und Tennis auf dem Lehrplan steht, aber keine Leichtathletik. In den letzten 15 Jahren hat der ehemalige Spitzensportler Psavkin mehr als vierzig Sportler aus der ehemaligen UdSSR nach Israel gelockt. Mit seiner Philosophie, die hinter diesen Transfers steht, hält Psavkin auch nicht zurück: »Die besten Juden der Welt sollen für Israel an den Start gehen!« Nun möchte er die amerikanische Stabhochspringerin Jillina Schwartz aufnehmen. Auch sie ist gerade in Berlin. Bei der Makkabiade im vergangenen Monat hatte Schwartz gewonnen, seitdem lässt Psavkin nicht locker, sie für Israel zu gewinnen. Das israelische Leichtathletikteam hat aber auch noch eine andere Geschichte. Sie hat viel mit dieser Stadt zu tun, in der die WM stattfindet. »Die Stadt, in der alles begann«, wie Stabhochspringer Yevgeniy Olkhovskiy Berlin nennt. Um das zu erklären, erzählt er seine Familiengeschichte. Die seiner Urgroßeltern, die in der Ukraine in ein deutsches Konzentrationslager verschleppt und dort ermordet wurden. »Zehn Mitglieder meiner Familie haben die Nazis umgebracht«, erklärt er. »Nun bin ich hier in Berlin. Das ist schon sehr speziell«, so Olkhovskiy. In der Stadt, die so voll ist mit Symbolen des Faschismus und den Versuchen, diese Zeit zu verarbeiten. Das Haus der Wannseekonferenz steht hier, das Olympiastadion und das Holocaustmahnmal. Das alles findet sich auch auf dem Besuchsprogramm der israelischen Athleten.
deutsche geschichte Am vergangenen Samstag gingen sie gleich zum Holocaustmahnmal. »Ich finde das sehr gelungen. Es sollte mehr Mahnmale in dieser Art geben, überall auf der Welt«, sagt Olkhovskiy. Doch auch das Berliner Olympiastadion stellt die israelische Delegation vor eine besondere Herausforderung. »Es ist für mich das Stadion von Hitler. Wir werden und können das nicht vergessen«, betont Teamchef Psavkin mit ernstem Gesicht. 1932 reisten seine Mutter und sein Vater aus Lettland nach Palästina aus und bauten Israel mit auf. Der Rest der Familie blieb in Europa und wurde später in Polen und Lettland ermordet. »120 Menschen«, sagt er, und als er das erzählt, kann und will er seine Tränen nicht mehr verbergen.
Psavkin beschwert sich über den Auftakt dieser WM in einer Stadt, »deren Boden mich hier ständig anschreit«, wie er es ausdrückt. Mit keinem Wort habe der Präsident des Internationalen Leichtathletik-Verbandes (IAAF), der Senegalese Lamine Diack, in seiner Eröffnungsrede das Stadion mit seiner Hitler-Geschichte erwähnt. »Es ging immer nur um Frieden und vor allem darum, hier viel Spaß zu haben. Ich lehne das nicht ab. Aber das ist einfach zu wenig für eine Stadt wie Berlin«, regt sich Psavkin auf. Auch in der Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit, fehlte Psavkin ein historischer Verweis auf das Olympiastadion. »Ich kann nicht verstehen, warum man das verschweigt.« Psavkin ist überhaupt nicht glücklich über die Wahl Berlins als Austragungsort dieser WM. Nun aber ist er hier, zehn Tage lang.
Sein Team, vor allem Dreispringer Yochai Halevi, sieht das mit Berlin entspannter, trotz seines klassischen Fehlstarts. Das hat vielleicht etwas mit den Generationen zu tun. Halevi freut sich auf das »wahnsinnige, legendäre Nachtleben dieser Stadt. Es soll noch besser sein als in Tel Aviv«, hat er gehört. Und dann gibt es auch noch das »leckere Weizenbier« und »die Kultur, die Berlin zu bieten hat. Eine tolle Stadt.« Seine Freundin kommt auch bald nachgereist, und die beiden wollen hier richtig was erleben.
Im Safe Die Sirene des Ausflugsdampfers ertönt. Die Menschen strömen jetzt aus dem Biergarten an Deck und freuen sich auf ihren Ausflug. Das israelische Team nimmt eine andere Richtung. Es geht zurück ins Hotel, in den »Safe«, wie es Psavkin nennt. Den Pass vorzeigen und dann vorbei an den breitschultrigen, strengen Sicherheitsbeamten. Schnell verschwindet die kleine Mannschaft hinter den blickdichten Drehtüren. Umziehen, Training und schließlich die Wettkämpfe, im Berliner Olympiastadion.