von Jonathan Scheiner
Was genau zu hören sein wird, weiß Michael Nyman selbst noch nicht. Der englische Star-Komponist feilt derzeit noch an seinem Song For Charlotte Salomon. Das Stück wird am 29. September, am Abend der feierlichen Eröffnung des Glashofes im Jüdischen Museum in Berlin uraufgeführt, dort, wo derzeit auch die Bilder der Malerin ausgestellt werden. Der Komponist wird die Alt-Sängerin Hilary Summers am Klavier begleiten.
Nyman sah die Bilder der 1943 in Auschwitz ermordeten Malerin Charlotte Salomon zum ersten Mal in einer Renaissance-Kirche in Padua, wo einige ihrer Werke ausgestellt waren. Der Komponist war seinerzeit »völlig unvorbereitet auf den Effekt, den die Bilder auf mich ausübten. Damals öffnete sich mir erstmals ihre erstaunliche, um nicht zu sagen, kuriose Welt«, verrät er. Als Nymans Freund, der Kunsthistoriker Adrian Rifkin, ihm ein Projekt vorschlug, das die Wechselbeziehung von Malerei und Musik in Salomons Oeuvre beleuchten sollte, fiel der Startschuss für eine tiefergehende Auseinandersetzung, die nun in der Uraufführung des Song For Charlotte Salomon gipfelt.
Dass sich Nyman mit jüdischer Thematik auseinandersetzt, ist nicht neu. Am Abend der Uraufführung im Jüdischen Museum werden auch die Six Celan Songs gespielt, die Nyman 1991 nach Gedichten von Paul Celan komponiert hat. Die Gedichte wie die Gesangsstücke kreisen um Adornos Diktum, dass es nach Auschwitz »barbarisch« sei, Lyrik zu schreiben. So hat der Komponist sechs Celan-Gedichte ausgewählt, die vordergründig mit Blumensymbolik zu tun haben. Tatsächlich geht es darin um Auschwitz.
Auch in anderen Werken thematisiert Nyman die Schoa, so etwa in der Musik für den japanischen Animationsfilm The Diary of Anne Frank (1995) sowie in einer Oper nach dem Roman David Golder der ukrainisch-jüdischen Schriftstellerin Irène Némirovsky.
Im Alltag hat Nyman mit Judentum recht wenig am Hut: »Aufgewachsen bin ich als säkulärer Jude im nordwestlichen London. Ich wurde gezwungen, die Hohen Feiertage zu achten, genauso wie die Speisevorschriften einzuhalten. Trotzdem spielt Jüdischkeit keine bewusste Rolle in meinem Leben. Außer der Tatsache vielleicht, dass ich es nicht vermeiden kann, jüdisch zu sein.«
Nymans Werk nur von seiner jüdischen Seite her zu beleuchten, wäre unzureichend. Als Musikwissenschaftler prägte er den Begriff »Minimalismus« in der zeitgenössischen Musik, für den sein eigenes Werk ein Paradebeispiel ist. Nymans Buch Experimental Music – John Cage and Beyond von 1974 gilt als Meilenstein neuerer Musikliteratur. Zwei Jahre später betrat er als Komponist die große Bühne, als er auf Einladung von Harrison Birtwistle die Musik für die Bühnenproduktion Il Campiello schrieb. Neben Symphonien, Opern und Konzerten entstanden Liederzyklen, Ballettmusiken und Chorwerke. Berühmt wurde Nyman durch seine Filmmusiken zu den Werken von Peter Greenaway. Der Kontrakt des Zeichners, Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber und Prosperos Bücher schrieben Filmgeschichte. Am erfolgreichsten war jedoch die Musik zu Jane Campions Blockbuster Das Piano.
In Anbetracht dieses vielschichtigen Werkes kann eine Auseinandersetzung mit Charlotte Salomon nicht erstaunen, denn auch ihr Werk ist schillernd und vielgestaltig. Auf die Frage, was Nyman am Werk von Salomon am meisten interessiere, kann sich der Komponist nicht recht entscheiden: »Alle Aspekte faszinieren mich: das Werk selbst und seine einzigartige Wechselbeziehung von sozialer, familiärer, persönlicher, politischer und jüdischer Geschichte. Die Wechselbeziehung von Musik, Text und Malerei genauso wie seineAufführungsmöglichkeiten.« Das macht nicht nur Lust auf die Uraufführung des Stücks, sondern auch auf die CD-Aufnahmen von Nyman (www.mnrecords.com).