von Ludger Heid
Pitigliano ist eine alte Etruskerstadt am südöstlichen Zipfel der Toskana, ein antikes Gesamtkunstwerk von atemberaubender Schönheit. Sie thront auf der Abbruchkante eines massiven Tuffsteinfelsens, auf dem Natur und Architektur, Fels und Häuser miteinander verwachsen sind. Rund 4.000 Einwohner zählt das Städtchen, alle sind römisch-katholisch – außer einer Frau, sie ist Jüdin.
Die im 16. Jahrhundert erbaute, 200 Jahre später erneuerte und 1995 renovierte Synagoge ist heute ein Anziehungspunkt für Touristen – vor allem aus Deutschland und Israel. Es gibt einen historischen Weinkeller, in dem der koschere Wein, der heute wieder zu kaufen ist, gelagert wird, eine Mikwe, eine koschere Metzgerei und eine Bäckerei, in der 1939 letztmals Mazze für die Gemeinde gebacken wurde, bevor die italienischen Rassengesetze das jüdische Leben außer Kraft setzten. Heute ist die jüdische Backmaschine für die Touristen wieder in Betrieb genommen. Es gibt ein Video, das die einzige Jüdin des Ortes beim Keksebacken zeigt. Man kann eine koschere Mazzebackmaschine en miniature zum Selberbasteln kaufen und ein Kochbuch dazu. Die Juden von Pitigliano sind in den Todeslagern der Nazis oder in der Emigration verschwunden, Kommerz und Kitsch sind an ihre Stelle getreten.
Jüdisches ist »in« in Pitigliano und groß das Interesse am verschwundenen Judentum. Regelmäßig im Sommer richtet der 1996 gegründete Verein »Klein-Jerusalem« ein Kulturfestival aus, bei dem eine gemeindelose Synagoge zur Schau gestellt wird in der Art von Karl-May-Festspielen, wobei Juden die Rolle der Indianer geben. Früher machten in dem Städtchen Juden die Hälfte der Bevölkerung aus. Heute hat sich das Judentum in »La Piccola Gerusalemme di Pitigliano« reduziert auf Klischees und Folklore vor einer in Tuffstein-Felsen gehauenen bizarren Kulisse.
Dieser magische Ort des toskanischen Judentums hat mit der Wirklichkeit des heutigen Judentums in Italien nicht mehr viel gemein. In Florenz, der Hauptstadt der Toskana, befindet sich mit etwas über 600 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde der Region. Ihr Angebot ist beachtlich: Neben der großen Synagoge unterhält die Gemeinde ein viel besuchtes Museum, einen monumentalen Friedhof, ein Kulturzentrum und einen koscheren Markt samt einem Verkaufsautomaten mit koscheren Snacks und Sandwiches für Touristen. Die »moderne« Florentiner Synagoge wurde 1882 eingeweiht, ein kuppelgekrönter Zentralbau, inspiriert von der Hagia Sophia, mit eklektischen Stilrichtungen, wobei maurische Elemente überwiegen. Die deutschen Besatzer haben dieses Gotteshaus während des Krieges als Garage für Militärfahrzeuge missbraucht, und was die Nazi-Vandalen bei ihrem Abzug aus der Stadt in ihrer Zerstörungswut nicht zu vernichten vermochten, wurde, als der Arno 1966 über die Ufer trat und drei Meter hoch in der Synagoge stand, von den Fluten mitgerissen. 90 der 100 Torarollen und 15.000 Bücher der Bibliothek wurden unwiederbringlich vernichtet.
Die zweitgrößte jüdische Gemeinde der Region ist die von Livorno, einer wichtigen Hafen- und Handelsstadt. Da hier zahlreiche Kreuzfahrschiffe an- und auslaufen, verirren sich ab und zu Passagiere beim Landgang in die nahe gelegene Synagoge. 600 Juden zählt die jüdische Gemeinde von Livorno heute, die meisten von ihnen haben ihre Wurzeln im sefardischen Judentum des 16. Jahrhunderts. Im Gemeindearchiv werden eindrucksvolle Faszikel der spanisch-portugiesischen Juden aufbewahrt. Livorno ist die einzige Medici-Stadt, die nie ein Ghetto eingerichtet hat. Eine Besonderheit der Livorner Juden ist eine eigene Sprache, die zum Teil auch heute noch gepflegt wird: das Bagitto, ein Sprachmix aus Spanisch, Italienisch und Hebräisch. Dieses Idiom unterscheidet sich stark von der Sprache, die die italienischen Juden im Allgemeinen sprechen. Bagitto wurde zur Lingua Franca und die damit verbundene Küche – zum Beispiel Couscous – wurde Teil der geläufigen Küche Livornos. Juden in Livorno waren die ersten Italiener, die mit Tomaten kochten. Die jüdischen Flüchtlinge von der iberischen Halbinsel brachten die mittelamerikanische Frucht von zu Hause mit, wo sie Kolumbus Ende des 15. Jahrhunderts eingeführt hatte.
In den vergangenen Jahren hat eine spärliche Zuwanderung aus den Maghreb-Staaten zu einem nur winzigen Aufschwung der Gemeinde in Livorno geführt. Dabei hat die Gemeinde alles, was für ein lebendiges Judentum notwendig ist: eine repräsentative Synagoge aus den 60er-Jahren, die sich von den Renaissance-Bauten der Umgebung deutlich abhebt und sich als Ausdruck eines neuen italienischen Judentums der Post-Schoa-Ära interpretieren lässt, einen jungen Rabbiner aus Israel, eine Mikwe, eine koschere Küche, einen Schächter und koscheren Wein aus einheimischer Produktion direkt vor der Haustür. »Es gibt hinreichend finanzielle Unterstützung von Staat und Kommune für alle möglichen Projekte, die wir durchführen wollen«, sagt Gemeindesekretär Gabriele Bedarida.
Doch die Mitglieder bleiben ihrer Gemeinde fern. Zwischen 2002 und 2006 gab es jeweils eine Hochzeit pro Jahr, 2004 waren es drei. In Livorno findet am Schabbat nur noch samstags Gottesdienst statt, Kabbalat Schabbat am Freitagabend feiert, wer möchte, zu Hause. An den vergangenen Feiertagen bekam die Gemeinde nur mit Mühe einen Minjan zusammen. Im herannahenden Winter wird man den Gottesdienst, um Heizkosten zu sparen, in einer Art Notsynagoge im Kellergeschoss durchführen.
Niemand der Gemeindevertreter glaubt langfristig an eine Weiterentwicklung der jüdischen Gemeinden in der Toskana. Das Problem des toskanischen Judentums, das von vielen Offiziellen der Gemeinden hinter vorgehaltener Hand allenthalben genannt wird, ist weniger die innere Auszehrung als ein Trend, der in der Gesamtdiaspora festzustellen ist: die sogenannten Mischehen, die zur Entfremdung vom Judentum führen und die Existenz der Gemeinden gefährden. Viele Gemeindefunktionäre räumen den Gemeinden wenig Zukunftschancen ein, zitiert werden will aber niemand. Eine pessimistische Stimme aus Livorno orakelt, dass es in 20 bis 30 Jahren keine jüdische Gemeinde mehr in der Stadt geben wird.