von Jutta Sommerbauer
Avi Tetros Schicht dauert schon 26 Stunden. Er ist müde, seine ansonsten munteren dunklen Augen sind schmaler geworden, er muss das Gähnen unterdrücken. Seit gestern Morgen ist der 19-Jährige in der Klinik im Einsatz. Er misst Blutdruck, schreibt EKGs. Avis hat kaum geschlafen letzte Nacht. Kaum war er eingenickt, wurde er aus dem Schlaf gerissen, und das dreimal. Immer kam ein Neuzugang.
Auch jetzt an diesem Freitagvormittag sind Patienten da. Sie warten im Gang auf einfachen Stühlen: Fast alle sind Männer, und fast alle tragen die olivgrüne Uniform des österreichischen Bundesheeres. Avis Krankenhaus ist das Heeresspital in der Van-Swieten-Kaserne in Wien-Floridsdorf. Seit einem halben Jahr ist dies sein Arbeitsplatz. Avi ist Sanitäter. Und er ist Soldat.
Avi, dessen Familie aus Georgien stammt, leistet im Heeresspital seinen achtmonatigen Wehrdienst ab. Die Pflicht zur Stellung, wie es im österreichischen Militärjargon heißt, gilt in der Alpenrepublik für alle männlichen Staatsbürger mit Beginn des 18. Lebensjahrs. Ausnahmen aus religiösen Gründen gibt es nur für Geistliche – Rabbiner, Priester, Imame – und solche, die dies werden wollen.
Wenngleich Österreich die NS-Vergangenheit mit Deutschland teilt, gibt es keine Befreiung für Nachkommen von Schoa-Überlebenden wie beim großen Nachbarn im Norden. Für die meisten österreichischen Juden bedeutet dies, zwischen Zivildienst und Bundesheer zu wählen.
Avi fiel die Entscheidung leicht. »Ich wollte immer zum Militär«, sagt der Junge mit dem schwarzen, akkurat geschnittenen Haar. »Als Jude ist man mit Krieg konfrontiert.« Anfangs habe er noch daran gedacht auszuwandern und seinen Wehrdienst in Israel zu leisten – »das einzige Land, wo man als Jude sicher ist«. Vor Antisemitismus ja – aber nicht vor »Fehlentscheidungen der Politik wie dem Libanonkrieg«, sagt Avi. »Für die Menschen in Israel hätte ich es gemacht, aber nicht für die Politik.« Außerdem dachte Avi in erster Linie pragmatisch: Sein Wehrdienst sollte kurz sein. Gleichzeitig aber wollte der junge Wiener seine religiösen Pflichten nicht vernachlässigen – Avi betet regelmäßig, hält den Schabbat und begeht die Feiertage. Deshalb gilt er als »strenggläubig« – so werden religiös praktizierende Juden beim Heer genannt.
Avi ist einer von jährlich einer Handvoll jüdischer Rekruten, die in Wien ihren Dienst tun. Seit fünf Jahren regelt ein eigener Erlass des Verteidigungsministeriums ihr Dienstverhältnis. Ernst Stern, Beauftragter der Israelitischen Kultusgemeinde für die Betreuung der jüdischen Soldaten, hat sich für dessen Zustandekommen eingesetzt. Davor habe es beim Heer keine klaren Regeln gegeben, sagt er. Als sein Sohn »einrückte«, sei er allzu oft dienstfrei gestellt worden oder habe nur geputzt, erinnert sich Stern. »Das sind doch verlorene Monate!« Für den glühenden Verteidiger des Bundesheeres eine »ungewollte Diskriminierung«, die vor allem aus Unkennt- nis der jüdischen Religionsvorschriften geschah. Schließlich wandte er sich mit einem Brief an den Vorgesetzten seines Sohnes und bat darum, dass auch dieser zu einem »regulären, vollwertigen Soldaten« ausgebildet würde.
In dem Schriftstück, auf das sich Kultusgemeinde und Heer in den folgenden Monaten verständigten, sind die Rechte und Pflichten religiöser Soldaten Punkt für Punkt aufgelistet: Dienstantritt nach dem Morgengebet, Ermöglichung eines individuellen Gebets am Nachmittag, Freistellung am Schabbat und an Feiertagen, koschere Verpflegung auch während der Feldwoche, das Tragen der Kippa unter der militärischen Kopfbedeckung. Ob dieser Katalog religiöse und vergangenheitspolitische Vorbehalte ausräumen kann? Offiziell jedenfalls äußert die Kultusgemeinde keine Bedenken dagegen, dass Juden ins Heer ein- gezogen werden.
Nach beendeter Grundausbildung tun die jüdischen Rekruten für gewöhnlich Dienst in der Van-Swieten-Kaserne. Dort hat man einen eigenen Raum für sie eingerichtet. Sie bewahren dort koscheres Geschirr, Besteck und Nahrungsmittel auf. Mikrowelle, Wasserkocher, Kühlschrank, Esstisch: eine spartanische Einrichtung – oder, in der Sprache des Heeres, funktional.
Stefan Koutnik, Sprecher des Militärkommandos Wien, findet die Integration jüdischer Rekruten gelungen – und folgerichtig: »Unser Heer hat eine lange Tradition im Umgang mit unterschiedlichen Religionen«, sagt er. Bevor Österreich eine Republik wurde, dienten in der Armee der Habsburger an die 300.000 Juden aus allen Provinzen des Reiches, es gab Militärrabbiner und koschere Verpflegung.
Und es gab Vorurteile: Die »feigen Juden« hätten nie an der Front gestanden, lautete eines im Gefolge des Ersten Weltkriegs. Nach der Machtübernahme durch die Nazis wurden Juden aus dem Heer ausgeschlossen. Koutnik kennt die Geschichte, doch er spricht viel lieber vom Heute, von der Mehrreligiosität im Militär. Die sei inzwischen Realität, vor allem wegen der vielen muslimischen Rekruten.
Militärbetreuer Ernst Stern schätzt, dass etwa die Hälfte der jungen jüdischen Männer zum Heer geht. Vor allem jene mit Migrationshintergrund – kaukasische und bucharische Juden – sind es, die den Dienst an der Waffe wagen. »Diese Söhne werden traditioneller erzogen«, sagt Stern, der selbst in den 60er-Jahren Wehrdienst im österreichischen Heer geleistet hat. Bei Problemen mit Vorgesetzten oder antisemitischen Gehässigkeiten ist er der Ansprechpartner der jungen Männer. In all den Jahren, beteuert er, habe es »nur einen ernsten Vorfall« gegeben: antisemitische Schmierereien. Lästert jemand, was manchmal vorkomme, so regelten die Burschen die Probleme »unter Männern« oder, wenn das nicht helfe, auf dem Dienstweg.
Avi musste den anderen Rekruten vor allem viel über das Judentum erklären. »Ich hab’s locker genommen«, sagt er. Auch mit den Muslimen in der Truppe würde die Zusammenarbeit gut funktionieren. »Am Anfang schaut man sich blöd an, aber gemeinsam im Dreck zu liegen, das ver- bindet.« Das Heer als Gleichmacher? »Ja, in gewisser Weise.« Allerdings achtet Avi darauf, einer unter Gleichen zu sein. Damit nicht der Eindruck entstünde, dass für ihn andere Regeln gelten als für den Rest. »Sonst heißt es: Juden werden bevorzugt.« Denn auch wenn er im Heer keine negativen Erfahrungen gemacht hat: »Antisemitismus gibt es in Österreich genug.«
Am frühen Nachmittag beendet Avi seinen Dienst für heute. Er verlässt die Van-Swieten-Kaserne und fährt mit der Straßenbahn nach Hause. Gerade noch recht- zeitig zum Beginn des Schabbats.