Es vergeht kein Tag in der Woche, an dem ich nicht im Büro bin im Münchner Gemeindezentrum am Jakobs-Platz. Aber vielleicht gehe ich gleich wieder. Denn Unterwegssein gehört zu meinem Job. Ich gestalte meinen Tag, wie ich möchte. Viele Leute denken, so ein Jugendleiter sitzt in seinem Büro, schreibt E-Mails und telefoniert. Für mich gilt das nicht. Ich bin kein Mensch, der seine Arbeit im Büro erledigt. Ich muss raus. Ein Jugendleiter muss unters Volk. Wenn wir zum Beispiel eine Kinderuni mit Ausflügen planen, dann sehe ich mir das nicht im Internet an, sondern ich gehe hin und schaue mir die Orte an und die Personen, die das Ganze machen. Außerdem muss ich Kontakt halten mit Leuten, die in der Gemeinde für die Jugend da sind, die Musik, Tanz, Theater, Malen, Schach und was auch immer anbieten.
Ich habe ihn also angenommen, diesen Job. Dabei war ich damals, als die Anfrage kam, ob ich in der Münchner Gemeinde als Jugendleiter arbeiten möchte, wirklich skeptisch. Ich kenne die jüdischen Gemeinden in Deutschland. Sie sind schwierig. 15 Jahre war ich in der Jugendarbeit tätig, und es ist leider so, dass viele Gemeindevorstände – nicht alle – eine Art Alibijugendleiter suchen und einstellen. Auf dem Papier steht dann: »Wir haben einen Jugendleiter.« Der hat vielleicht Sozialpädagogik studiert, kennt sich aus mit formeller Erziehung, mit dem, was der Staat und die Gesellschaft so vorgeben, aber er hat kaum praktische Erfahrung.
rollen Ich bringe Erfahrung mit und setze auf non-formelle Erziehung, das bedeutet, dass ich als Leiter fähig sein muss, in kürzester Zeit in verschiedene Rollen zu schlüpfen: Mal bin ich Pädagoge, mal Kumpel, Freund, mal Vater. So läuft das ab, wenn ich mit den Kindern und Jugendlichen zusammen bin, und manchmal komme ich mir dabei wie ein Jongleur vor.
Die Münchner Gemeinde meint es ernst mit ihrer Jugendarbeit. Das habe ich gemerkt. Sie ist bereit und willig, in die Kinder- und Jugendarbeit zu investieren. Ich fühle mich wohl, auch in dieser Stadt. Nach einem Jahr kann ich das sagen. Ich mag die Atmosphäre hier. München ist leicht spießig, ich bin es nicht, aber ich reibe mich gern an etwas. Irgendwie ist München nicht richtig Deutschland. Es ist ein bisschen Ausland. München ist vielfältig. Wie Berlin. Nein, Berlin ist extremer. Aber Basel ist im Vergleich zu München ein Dorf.
Bevor ich nach München kam, war ich Jugendleiter bei der Israelitischen Gemeinde Basel. Dort habe ich über vier Jahre gearbeitet. Ich bin dorthin gegangen, weil ich mich von den jüdischen Gemeinden in Deutschland nicht mehr verstanden fühlte. Sie kapierten nicht, was ich wollte. Immer und immer wieder habe ich ihnen gesagt, dass sie gute Leute als Jugendleiter holen müssen, denn die Jugendzentren sind das Herz der Gemeinde. Die Leute in der Politik sind stolz, dass man mehr als 90 jüdische Gemeinden in Deutschland hat. Aber nur eine Handvoll Jugendzentren sind in ihren Aktivitäten wirklich ernst zu nehmen. Das finde ich traurig. Wenn man nicht anfängt, die Kinder an die Gemeinde zu binden, ihnen eine gewisse Identität zu geben, ihnen klarzumachen, dass die Gemeinde ein Zuhause ist, dann sind sie in 20 Jahren weg. Und wenn sie weg sind, dann kann die Gemeinde zwar ein schönes Gebäude bauen, das nützt dann aber nichts.
freiheit In Basel hat mir bei meiner Arbeit niemand reingeredet. Ich hatte die totale künstlerische Freiheit. Man hat gesehen, dass ich gut bin, und das war genug. Das ist mir auch hier in München wichtig. Ich mag es nicht, wenn man mich zu sehr kontrolliert. Ich weiß, was die Jugendlichen brauchen. Bis jetzt klappt das gut, und ich bin sehr zuversichtlich. Wenn ich unter Beweis gestellt habe, dass ich keine Kontrolle brauche, dann werden alle sehen: Lässt man ihn in Ruhe, macht er gute Arbeit. Natürlich, etwas Kontrolle ist nötig. Man muss ja wissen, wo das Geld hinfließt. Aber in Maßen.
Ob ich für immer in München leben möchte? Nein. Ein Jugendleiter sollte sowieso höchstens vier Jahre an einem Ort bleiben. Dann ist neuer Wind nötig.
Geboren wurde ich 1975 in Israel, in Beerschewa. Aufgewachsen bin ich in Netanja. Als ich zwölf war, sind meine Eltern nach Deutschland ausgewandert, nach Offenbach. Kommt man aus Israel nach Deutschland, hat man zunächst einmal mit der Gemeinde nichts am Hut. Anfangs fragte man uns: »Was macht ihr hier?« Mein Vater fragte dann zurück: »Und ihr, was macht ihr hier?« Irgendwann, so mit 16, 17 wollte man von mir wissen, ob ich mir vorstellen könnte, Madrich zu sein. Ich sagte ja, und so fing alles an.
Ein Jahr nach dem Abi ging ich zurück nach Israel, habe dort in Tel Aviv an der Filmakademie studiert. Doch die Jugendarbeit hat mich nie losgelassen. Alles, was ich heute kann, habe ich der Jugendarbeit zu verdanken. Ich kam also wieder zurück nach Deutschland, war unter anderem in Berlin als Multiplikator für die ZWST, die Zentralwohlfahrtstelle der Juden, tätig, habe Madrichim ausgebildet in Berlin, Hannover, Hamburg. Für die Machanot habe ich sie aus ganz Deutschland vorbereitet. Dutzende von Machanot habe ich selbst geleitet. Einmal eins in Südtirol, mitten im Winter, 250 Kinder waren dabei. Das ist nicht leicht, das ist Überlebenstraining. Aber es war toll.
spielfilme Neben der Jugendarbeit habe ich immer auch in meinem Beruf gearbeitet, als Regieassistent in verschiedenen Spielfilmproduktionen fürs Fernsehen. Das ist und bleibt mein Beruf. Was ich an Zeit übrig habe, investiere ich in ihn. Viel ist das aber nicht. Die vergangenen Wochen habe ich damit verbracht, Madrichim zu rekrutieren. Ich bin mit ihnen Kaffee trinken gegangen, habe mit ihnen ein Wochenende in Neu-Ulm gemacht, um sie zusammenzuschweißen und das neue Jahr zu planen. Habe ich unmotivierte Madrichim, kann ich einpacken. Ich gebe an sie meine Erfahrung und Motivation weiter, erkläre, wie man ein Projekt macht, das den Chanichim auch gefällt. Denn eines müssen sie wissen: Kinder sind erbarmungslos. Sie kommen einmal, höchstens zweimal. Wenn du es auch das zweite Mal verkackst, dann wollen sie mit dir nichts mehr zu tun haben. Sie geben dir keine zweite Chance. Also sei cool, so dass sie denken, mit der Person will ich zusammen sein. Wir sprechen darüber, was es heißt, ein Madrich zu sein. Wie setzt man vor den Kindern und Jugendlichen geschickt Rhetorik und Körpersprache ein, wie animiert man?
Jeden Tag bin ich bemüht, den Chanichim eine gesunde jüdische Identität zu geben. Denn da draußen bekommen sie manchmal eins auf den Deckel. Ob das jetzt ein Mitschüler mit dummen Bemerkungen ist oder ein Lehrer, der vor der Klasse sagt: »Ja, was macht ihr Israelis denn dort mit den Palästinensern? Das ist ja nicht besser als hier vor 60 Jahren.« Das passiert, und zwar täglich.
Kein Chanich soll nervös werden, wenn er so etwas zu hören bekommt. Keiner soll Diskussionen aus dem Weg gehen, keiner soll seinen Davidstern verstecken. Mir ist es wichtig, dass unsere Kinder auf solche Bemerkungen reagieren können – nicht frech, sondern mit Anstand und diszipliniert. Daran arbeiten wir durch Wissen, ein gutes Gefühl und Spaß. Wir begehen die Feier- und Gedenktage zusammen und versuchen, eine mentale Bindung zu Israel aufzubauen. Alles, was stattfindet, muss durchdacht und vorbereitet sein. Was ich mache, ist Kleinstarbeit: Aufbauen vom Kern her. Das ist mühsam, aber machbar. Step by step muss ich das Vertrauen der Kinder und Eltern gewinnen. Darauf will ich mich konzentrieren. Große Sachen kommen später.