von Peter Bollag
Ein Mann hetzt durch das k. u k. Wien der 1910er-Jahre: Seine Umwelt reagiert ebenso irritiert wie verunsichert auf das seltsame Verhalten des jungen Mannes, der rast- und ruhelos von einem Schauplatz zum nächsten jagt und dabei für weibliche Avancen ebenso unempfindlich ist wie für den sanften Spott seiner Bürokollegen oder die übertriebene Höflichkeit einer Lebensmittelhändlerin. Es ist der Student Stanislaus Demba, dessen scheinbar sinnloses Verhalten der Schriftsteller Leo Perutz (1882-1957) in seinem 1918 erschienenen Roman Zwischen neun und neun be- schrieb.
Perutz’ meisterhafte Darstellung eines Menschen, der sich durch sein zwanghaftes Verhalten zum Außenseiter macht und dem eine selbstgerechte Gesellschaft verständnislos gegenübersteht, wurde zum Vorbild für spätere Autoren und Filmemacher. Der aus dem Krieg oder nach einer anderen Erschütterung zurückkehrende Mann, der seinen Platz in der Gesellschaft nicht mehr findet und schließlich – nicht ohne Getöse – untergeht, zählt zu den archetypischen tragischen Helden der modernen Literatur.
Leo Perutz selbst fand seinen Platz in der Gesellschaft – anfangs jedenfalls. 1882 als ältestes von vier Kindern einer wohlhabenden assimilierten Kaufmannsfamilie in Prag geboren, wandte er sich zunächst der Mathematik zu. Die »Perutzsche Ausgleichsformel«, 1911 veröffentlicht und in der Versicherungsmathematik ein fester Begriff, geht auf ihn zurück. 1907 engagierte ihn die Versicherungsgesellschaft Assicurazioni Generali im damals noch österreichischen Triest. Von dort ging Perutz nach Wien, wo seine schriftstellerische Laufbahn begann. Ab 1915 veröffentlichte er erfolgreiche Bücher und Theaterstücke. Seine Spezialität waren historische Romane wie Die dritte Kugel, Der schwedische Reiter oder Turlupin. Wobei der Begriff »historischer Roman« irreführend ist. Perutz wollte nicht einfach geschichtliche Ereignisse abbilden, sondern wie Ulrike Siebauer in ihrer Biografie des Autors schreibt, »die Probleme der eigenen Zeit in einem historischen Gewand vorführen.«
Die Probleme der eigenen Zeit wurden ab 1933 für Leo Perutz akut. Als jüdischer Autor durfte er in Deutschland nicht mehr erscheinen. Der einst erfolgreiche und gut verdienende Autor – sein 1928 erschienenes Buch Wohin rollst Du, Äpfelchen? hatte die Berliner Illustrierte Zeitung als Fortsetzungsroman mit einer Auflage von zwei Millionen Exemplaren abgedruckt – war jetzt auf den kleinen Schweizer und österreichischen Markt und die Übersetzungen einiger seiner Bücher angewiesen. 1938 marschierten die Deutschen dann in Wien ein. Perutz trat mit seiner zweiten Frau Grete und seinen drei Kindern den Weg in die Emigration nach Palästina an. Das damalige britische Mandatsgebiet war nicht gerade sein Wunschziel: »Ich habe keinen Gusto auf Scholet und keine Lust Ivrisch zu lernen« hatte er schon 1937 notiert. Allein, es half nicht.
Schlimmer als die Fremdsprache Hebräisch, der Wüstenwind Chamsin und die Ruppigkeit der Bewohner war für Perutz, dass er in Palästina als Schriftsteller praktisch unbekannt war und es während seiner Exiljahre auch weitgehend blieb. Hinzu kam, dass er alles andere als ein glühen- der Zionist war. Als 1948 der Staat Israel ausgerufen wird, zählte sich der Anhänger eines binationalen jüdisch-arabischen Staates zu den politischen Verlierern. Am liebsten wäre er ausgewandert. Dass er nicht wusste, wohin, war die Tragik des Leo Perutz. Zwar nahm er, schon aus praktischen Gründen, bald wieder die österreichische Staatsbürgerschaft an und reiste zusammen mit Grete regelmäßig nach Europa. Doch so richtig heimisch wurde er in der alten Heimat nicht mehr: »So geht es einem, der allzu viele Vaterländer hat. Ich habe deren drei gehabt und alle drei wurden mir wegeskamotiert«, schrieb er bitter-ironisch kurz vor seinem Tod, der ihn vor 50 Jahren, am 25. August 1957 in Bad Ischl ereilte. Dort ist Leo Perutz auch begraben.
»Es gibt kein größeres Unglück für einen Menschen, als wenn er unversehens in seine eigene Vergangenheit hineingerät«, lässt Perutz den Feldwebel Chwastek in seiner Novelle Das Gasthaus zur Kartätsche sagen. Ihm selber ist dieses Unglück mehrfach widerfahren.
Zum 50. Todestag erscheint bei dtv der elfte und letzte Band der Leo-Perutz-Edition, der Roman »Die dritte Kugel«