von Elena Jerzdeva und
Jutta Sommerbauer
Am Ende der Fußgängerbrücke, dort, wo man Quba endgültig verlassen hat und nach Krasnaya Sloboda kommt, sitzt ein alter Mann auf einer Bank. Regungslos hockt er da, gestützt auf zwei hölzerne Gehstöcke. Ein langer grauer Bart wächst aus seinem Gesicht, das unter einem Hut mit einer breiten Krempe verschwindet, von Kopf bis Fuß trägt er Schwarz. Schwarzen Nadelstreif. Die Vorübergehenden sieht er finster an.
Der alte Mann namens Ruvin sieht grimmig aus, doch er ist kein strenger Brückenwärter. Keiner, der so genau darauf achtet, wer von Krasnaya Sloboda nach Quba geht, oder wer aus dem muslimischen Städtchen den jüdischen Stadtteil betritt.
Ruvin trauert. Eines seiner Enkelkinder ist vor Kurzem ums Leben gekommen. 13 Söhne und vier Töchter hat er, »alle von einer Frau«, wie er beteuert. Über mehrere Länder verstreut lebt die Familie des 80-Jährigen: in Russland, den USA, Israel und auch in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans. Nur Ruvin ist in Krasnaya Sloboda geblieben, in seinem Häuschen hinter dicken Steinmauern, mit einem kühlen Hof, in dem Gänse schnattern und Katzen durch die Büsche streichen.
Krasnaya Sloboda, die »Rote Siedlung«, liegt im Nordwesten Aserbaidschans, drei Autostunden von Baku entfernt in einem grünen, fruchtbaren Hügelland. Bauern warten hier mit frischem Gemüse und Obst am Straßenrand auf Kunden. Hammelfleisch, in grillfertige Stücke zerteilt, hängt an den Bäumen. Die »Rote Siedlung« ist kein richtiges Bergdorf, die Gipfel des Kaukasus sind in sicherer Entfernung, die Straßen eben. Krasnaya Sloboda ist eine Mischung aus Dorf und Stadt, eigentlich ein Ortsteil des Städtchens Quba. Seine Hauptstraße, herausgeputzt und sauber, wird von luxuriösen Anwesen mit neoantiken Säulen gesäumt, wohl ein Wettstreit um das prächtigste Bauwerk im Ort.
Vermutlich kamen die Juden im Jahre 1742 aus dem heutigen Iran nach Krasnaya Sloboda – auf der Flucht vor religiöser Verfolgung im Persischen Reich. Der Landesfürst Fatali Khan gestattete ihre Ansiedlung. Den Begriff Bergjuden prägten erst Gesandte des Zaren, die im 19. Jahrhundert die Minderheiten im Kaukasus registrieren sollten. Noch immer spricht man hier einen Farsi-Dialekt, der auch als »Juuri« bezeichnet wird, also »Jüdisch«. Auch das Dorf selbst hieß, bevor die Rote Armee hier einmarschierte, »Evrejskaja Sloboda« – »Jüdische Siedlung«. Doch mit dem Einmarsch gingen die goldenen Zeiten des Ortes dahin. Von 13 Synagogen blieb der Gemeinde nur eine als Gotteshaus erhalten, die anderen funktionierte man zu Lagerhallen und Speichern um. 1937 wurde die Religionsausübung dann ganz verboten.
Seit der Unabhängigkeit Aserbaidschans geht das Gemeindeleben wieder bergauf. Alle acht Synagogen, die die Wirren der Sowjetzeit überstanden haben, erhielt die Gemeinde zurück. In einer ist nun ein jüdisches Kolleg untergebracht, wo die Jugendlichen sich mit jüdischer Kultur und Bräuchen vertraut machen. Seit fünf Jahren haben die Bergjuden ihre eigene Monatszeitung. Von Juden, Aserbaidschanern und Russen gemacht, erzählt sie vom harmonischen Leben der kleinen bergjüdischen Gemeinde des mittelasiatischen Landes.
Über Aserbaidschans früheren KP-Chef und langjährigen Präsidenten Heydar Aliev möchte der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Boris Simanduyev, kein schlechtes Wort verlieren. Im Gegenteil. Vorbildlich sei der Umgang mit Minderheiten und ein »Garant« für Toleranz auch Alievs derzeit regierender Sohn Ilham. Mit den Muslimen aus Quba lebe man in guter Nachbarschaft, bekräftigt Simanduyev.
Doch der Wiederaufbau wird durch die anhaltende Abwanderung getrübt. Früher lebten mehr als 18.000 Juden in Krasnaya Sloboda, heute sind es nur noch 3.600. Simanduyev hat viele seiner Gemeindemitglieder wegfahren sehen: Auswanderer nach Israel und Arbeitsmigranten nach Moskau. »Das war eine Kettenreaktion«, sagt er. »Einer ging weg, dann hat er die Verwandten nachkommen lassen.« Auch die – zumindest äußerliche – Prosperität verdankt Krasnaya Sloboda dem Geld der Emigranten.
Jedes Jahr im Sommer schnellt die Einwohnerzahl des Ortes in die Höhe: Da kommen die Emigranten – und für ein paar Wochen die große weite Welt nach Krasnaya Sloboda. Und nicht nur damit ist man hier manch anderem aserbaidschanischen Dorf voraus. »Strom und Wasser, all das gibt’s hier 24 Stunden am Tag«, erklären die drei Männer, die neben dem Backsteingebäude stehen, in dem die Jeshiwa untergebracht ist. Von Beruf Unternehmer, leben sie in Israel und Russland. Den Sommer verbringen sie in Krasnaya Sloboda, in ihren Prachtbauten, die im Winter leer stehen. Und wie wäre es, hier zu leben? Nein, die Gegend biete zu wenig Entwicklungsmöglichkeiten, aber für die Sommerfrische sei es hier ideal, sagen sie. Den Jugendlichen aus der Großstadt, die ein temporeiches Leben gewohnt sind, kann bei so viel Natur und Idylle schon mal langweilig werden. Auf der Suche nach Abenteuer brausen sie mit dem Jeep durch die engen Straßen.
Einzig die alten Männer im Kaffeehaus neben dem »Sadliq Sarayi«, dem bergjüdischen »Glückspalast« mit Räumlichkeiten für Hochzeiten und Barmizwa-Feiern, den ein großer Davidstern ziert, zeigen sich vom sommerlichen Trubel unbeeindruckt. Tagsüber sitzen sie hier, trinken Tee und spielen Nard, das hiesige Backgammon, mögen die Verwandten aus dem Ausland das nun altmodisch finden oder nicht.
Abseits der Durchgangsstraße ist Krasnaya Sloboda ein richtiges altmodisches Dorf geblieben: In den ungeteerten Gässchen sitzen am Nachmittag die Frauen vor dem Haus zusammen, schneiden Gemüse für das Abendessen, vertieft in einen Plausch. Bevor es dunkel wird, richtet sich auch Ruvin auf und verschwindet, die Stöcke bedächtig vor sich hin setzend, in sein Haus hinter den Steinmauern. »Wir werden trinken, wir werden feiern, und wenn der Tod kommt, werden wir nicht sterben«, sagt Ruvin zum Abschie. Er, der nicht mehr weggehen wird aus Krasnaya Sloboda.