von Bettina Spoerri
An Savyon Liebrecht fällt als erstes ihre Eleganz und ihre un-israelische Zurückhaltung auf. Wir sitzen in einem Café an der Dizengoff-Straße in Tel Aviv. Sie beobachtet die Umgebung aufmerksam und gleichzeitig distanziert. Den Treffpunkt hat sie ausgewählt. »Hier in diesem Café – es hieß damals Cassit«, erzählt sie, »verkehrten in den 50er und 60er Jahren die wichtigen Leute der Literaturszene.« Das Cassit ist der Hauptschauplatz von Liebrechts neuem Roman Ha-naschim schel aba (»Die Frauen meines Vaters«).
Savyon Liebrechts Eltern sind Schoa-Überlebende aus Polen. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten sie als DPs in München. Hier wurde die Autorin 1948 geboren. Damals hieß sie noch Sabina Sosnowski. »Wir wohnten bei einem alten deutschen Ehepaar, dessen Sohn in den 40er Jahren im Krieg gestorben war – doch darüber wurde nie gesprochen. Als Kind nannte ich die Frau und den Mann ›Oma‹ und ›Opa‹. Seltsame Umstände bringen seltsame Umstände hervor.« Wahrscheinlich habe ihr Vater gesagt, daß sie die beiden so nennen solle: »Alles, was deutsch war, fand er wundervoll. Als ich mir meinen ersten Wagen kaufte, beriet er mich und freute sich, daß es am Ende ein Volkswagen war.« Nach einer kurzen Pause liefert Liebrecht die Analyse nach: »Das ist dieses Phänomen, daß sich das Opfer mit dem Täter identifiziert. Überlebensstrategie.«
Der schonungslose analytische Blick auf die Spätfolgen der Schoa ist eines der Hauptthemen in Savyon Liebrechts Büchern. Sie weiß aus eigener Erfahrung um die Unberechenbarkeit des Unbewußten, des Verdrängten aus der Vergangenheit, das sich plötzlich in die Gegenwart drängt. »Das Tückische ist, daß die Zeit die Wunden nicht wirklich heilt – im Gegenteil. Solange Schoa-Überlebende noch jung sind, träumen sie zwar und schreien in der Nacht, doch am nächsten Morgen gehen sie wieder dem Alltag nach. Aber wenn sie älter werden und keine Pflichten mehr haben, kann ein Ton, ein Geruch, ein Satz oder ein Bild die Erinnerung mit einem Mal zurückholen.« Liebrecht spricht jetzt in der dritten Person. »Ich rede nicht gern von mir«, sagt sie. Der Schutz durch die Distanzierung, durch die psychologische Analyse, ist ihre Überlebensstrategie.
Savyon Liebrecht schreibt immer wieder von ihrer, der zweiten Generation, die mit dem Schweigen der Eltern lebt, aber deren Erfahrungen und Ängste unbewußt weiterträgt. Zu welchen Katastrophen dieses explosive Erbe führen kann, zeigt ihr vor kurzem bei dtv erschienener Erzählungsband Ein guter Platz für die Nacht. Existentielle Entfremdung verbindet die sieben Geschichten, die jeweils den Namen eines Ortes als Titel haben: Amerika, Kibbuz, Hiroshima, Tel Aviv, München, Jerusalem und, schließlich, ein Nicht-Ort, an dem die Attribute von Orten keine Bedeutung mehr haben, weil alles Vertraute zerstört ist. Auch Liebrechts neues Bühnenstück Chinesisch spreche ich mit dir, das zur Zeit vom Tel Aviver Theater Beit Lissin aufgeführt wird, dreht sich um die Folgen der Schoa: Die Vergangenheit der Eltern erlaubt es der Heldin, einer Sabra, nicht, die normale Kindheit zu haben, die sie sich gewünscht hätte. Das ist der eine Strang des Stücks. Der andere führt in die Gegenwart und thematisiert die Diskriminierung der orientalischen Juden in der israelischen Gesellschaft.
Savyon Liebrecht, heute eine der bekanntesten Autorinnen Israels, wurde erst spät endeckt. Schon als 16jährige hatte sie zu schreiben begonnen. Doch es dauerte mehr als zwanzig Jahre, bis ihr erstes Buch erschien. Das war 1986 der Erzählungsband Äpfel aus der Wüste, für den Liebrecht den renommierten Alterman-Preis erhielt. Da hatte sie bereits in England gelebt, in Israel Philosophie und Literatur studiert, geheiratet – »so bekam ich doch wieder einen deutschen Namen«– und zwei Kinder geboren. Der kommerzielle Durchbruch kam weitere zwölf Jahre später. Ein Mann und eine Frau und ein Mann, ihr fünftes Buch und erster Roman, stand in Israel 1998 monatelang auf der Bestsellerliste und begründete auch ihre internationale Karriere. Inzwischen sind ihre Bücher auf Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und Italienisch erschienen.
Savyon Liebrecht verstummt und sieht sich im Café um; dann weist sie mich auf einen Tisch in unserer Nähe hin. Dort sitzt ein alter Mann in einem Rollstuhl einer jungen Frau aus den Philippinen gegenüber: »Schauen Sie, wie sie sich anschweigen. Er hat das Geld, doch er ist von ihr abhängig. Und sie von ihm. Das sind zwei menschliche Tragödien, die da aufeinander treffen.« Tausende von jungen Filipinas arbeiten bei betagten Israelis als Au-Pairs, meistens betreuen sie sie Tag und Nacht. In dem Erzählungsband Die fremden Frauen hat Liebrecht das dramatische Potential dieser ungleichen Beziehungen ausgelotet und der israelischen Gesellschaft einen kritischen Spiegel vorgehalten.
Und wie sieht die Schriftstellerin die politische Lage? Savyon Liebrecht gehört zu den mittlerweile in Israel wenig gewordenen Anhängern eines Dialogs mit den Palästinensern. Der Sieg der Hamas bei den palästinensischen Wahlen verursacht bei ihr allerdings zwiespältige Gefühle: »Ich weiß nicht, ob wir die palästinensischen Gesprächspartner verloren haben. Und die gewalttätigen Demonstrationen in der muslimischen Welt sind alarmierend. Trotzdem hatte ich in den letzten Tagen den Eindruck, daß die Hamas-Anführer vorsichtig und verantwortungsvoll zu handeln versuchen. Das und die Bereitschaft der israelischen Mehrheit, noch viele Siedlungen zu räumen, gibt mir ein wenig Hoffnung.«
Savyon Liebrechts Romane und Erzählungen sind in Deutschland bei dtv erschienen.