von Hans-Ulrich Dillmann
Mit einem Minjan können sie bereits aufwarten. 60 Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde von Nicaragua inzwischen. Es ist kurios: Kaum sind die Sandinisten nach fast zwei Jahrzehnten Oppositionsdasein sozialdemokratisch gewandelt wieder an der Macht, kehren jene zurück, die einst vor ihnen geflohen sind.
Vor wenigen Wochen brachten Nicaraguas Juden eine Torarolle in den improvisierten Betraum im Haus von Jimmy Najman ein. »Wir sind stolz darauf, endlich wieder eine eigene Sefer Tora zu haben«, sagt Mónica Naar Pardo über die Schenkung einer in den Vereinigten Staaten lebenden nicaraguanischen Familie. »Uns fehlen noch die finanziellen Mittel für die Eröffnung eines Tempels«, bedauert die jüdische Kolumbianerin, die mit einen Nicaraguaner verheiratet ist. Aber alle Juden des Landes sehen in der Einbringung der Torarolle einen ersten Schritt für eine Wiederbelebung der jüdischen Gemeinschaft.
Seit mehr als einem Jahr ist Eduardo Translateur Präsident der Congregación Israelita de Nicaragua. Einmal in der Woche finden sich die Mitglieder der Gemeinde zusammen, um den Schabbat zu begrüßen. Die Wenigsten sind allerdings in Ni- caragua geboren. Sie kommen aus Kolumbien, Guatemala, Israel und Großbritannien und bilden den Grundstock einer Gemeinschaft, die sich langsam wieder zu- sammenfindet. »Wir werden mehr«, freut sich Translateur, »auch die ausgewanderten Juden kehren wieder ins Land zurück.«
Als die Sandinisten 1979 die Macht in dem zentralamerikanischen Land übernahmen, verließen die bessergestellten Juden das Land und siedelten sich in den USA oder in Israel an. Anfang der 70er-Jahre, zu den besten Zeiten der Gemeinschaft, lebten rund 250 Juden in dem mittelamerikanischen Land. Als tatsächliche und vermeintliche Parteigänger von Diktator Anastasio Somoza standen sie plötzlich unter Generalverdacht. Die Synagoge wurde mangels Betern geschlossen. Erst nach dem Besuch des New Yorker (jüdischen) Bürgermeisters Edward Koch im Jahr 1987 wandelte sich die Politik der Sandinisten gegenüber den jüdischen Nicaraguanern. Koch verlangte demonstrativ, den Ort zu besuchen, an dem einst die Synagoge gestanden hatte. Mitte der 80er-Jahre wurde das jüdische Gotteshaus zwar wiedereröffnet, mangels Betern später jedoch wieder geschlossen. Heute befindet sich dort ein Bestattungsinstitut.
Aber auch unter den Sandinisten gab es Juden. Sie kämpften zuerst in den Bergen gegen Diktator Somoza und regierten dann das Land seit 1979 bis zur ihrer Abwahl im Jahr 1989 mit. Der Bekannteste von ihnen ist Herty Lewites Rodríguez. Der Nachfahre polnischer Juden schloss sich bereits mit 21 Jahren dem Widerstand gegen das Somoza-Regime an, zehn Jahre später war er Mitglied der Frente Sandinista de la Liberación Nacional (FSLN). Sein Bruder Israel starb 1977 beim entscheidenden Aufstand in Masaya, der den endgültigen Sturz des Diktators einleitete. Herty Lewites selbst wurde verhaftet, als er in den USA versuchte, Waffen für die FSLN zu kaufen. Nachdem er in der »Revolutionsregierung« den Posten des Tourismusministers bekleidet hatte, distanzierte er sich nach der Wahlniederlage 1989 zusehends von der Frente Sandinista und kritisierte deren undemokratisches Auftreten – vor allem aber die autokratische Politik von Parteichef Daniel Ortega. Im Jahre 2000 wurde »Herty«, wie er von allen genannt wurde, Bürgermeister von Managua, später gründete er eine Alternativpartei. Kurz nachdem er sich für diese zum Präsidentschaftskandidaten gegen Ortega aufgestellt hatte, starb er an einem Herzinfarkt.
Der erneute Zuzug von Juden in den vergangenen zwei Jahren aus anderen Regionen erwecke Vertrauen in die politische Stabilität des Landes und Hoffnung auf ein weiteres Wachsen, sagte Eduardo Translateur. Inzwischen schicken an den Hohen Feiertagen die Nachbargemeinden in Honduras, El Salvador und Costa Rica Rabbiner zur Unterstützung nach Nicaragua. »Die ersten Rückkehrer haben auch andere bewogen, wieder zurückzukehren«, sagt Gemeindepräsident Translateur, »Orthodoxe, Konservative oder Reformjuden, wir empfangen alle mit offenen Armen.« Doch man stehe noch am Anfang. Alles braucht seine Zeit. Jetzt gehe es darum, neben dem religiösen auch das soziale Leben der jüdischen Gemeinschaft neu zu formen.