von Christian Jahn
Jakow Basin ärgert sich. »Die Verwaltung ist absolut ignorant«, sagt der Präsident der »Vereinigung für progressives Judentum in Weißrussland«. Basin meint das Vorgehen der Verwaltung in der Kleinstadt Ljuban, rund 100 Kilometer südlich der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Im April ließen die Behörden ein Holzgebäude abreißen, das laut Vertretern der jüdischen Gemeinde einmal eine bedeutende Synagoge war.
Anfang des 20. Jahrhunderts lehrte hier Raw Mosche (1895–1986), der später zu einer großen halachischen Autorität und zu einem der wichtigsten orthodoxen Rabbiner Nordamerikas wurde. »Fast 20 Jahre lang war Mosche Feinstein in der nun abgerissenen Synagoge als Rabbiner tätig, bis zu seiner Ausweisung aus der Sowjetunion im Jahr 1936«, sagt Basin, der an der Weißrussischen Staatsuniversität in Minsk unter anderem Vorlesungen zur Geschichte des Judentums hält. Seiner Meinung nach hätte die Stadt das Andenken an den weltweit bekannten Orthodoxen pflegen müssen. Schließlich waren bis zum Zweiten Weltkrieg 70 Prozent der Bevölkerung in Ljuban Juden. Nach dem Terror der Nationalsozialisten und den Repressionen in der Sowjetunion leben heute nach unterschiedlichen Angaben noch eine bis fünf jüdische Familien in der fast 12.000 Einwohner zählenden Stadt.
Der Vorfall hat weite Kreise gezogen – sogar den weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko forderte ein Vertreter der in den USA lebenden weißrussischen Juden zum Eingreifen auf. Die Verwaltung in der Provinzstadt Ljuban wurde eiskalt erwischt. Der Verwaltungsvorsitzende Wasili Akulitsch ließ sich krankschreiben.
Seiner Stellvertreterin Tamara Dostanko merkt man die Anspannung an. »Was passiert ist, tut uns aufrichtig leid«, sagt sie. »Wir wissen, dass das Judentum ein wichtiger Bestandteil unserer Geschichte ist.« Dostanko bemüht sich um Schadensbegrenzung: Die Entscheidung für den Abriss des Gebäudes aus dem 20. Jahrhundert sei bereits 1980 getroffen und im Generalbebauungsplan für die Stadt festgeschrieben worden. Damals habe die Stadt vergeblich versucht, die Geschichte des Hauses zu ermitteln. Schriftliche Zeugnisse über die Nutzung als Synagoge seien nicht erhalten – die Argumentation der Vertreter der jüdischen Gemeinde in der derzeitigen Auseinandersetzung stütze sich folglich vollständig auf mündliche Zeugnisse.
Dass bis zum Abriss im April dieses Jahres noch 29 Jahre ins Land gingen, dafür gibt es laut Dostanko einen einfachen Grund: Wegen Raummangels sei das Haus in den vergangenen Jahrzehnten von der Stadt unterschiedlich genutzt worden. Erst mit dem Umzug der »SanStanzija«, einer medizinischen Einrichtung, sei der Weg frei gewesen für die Umsetzung des Bebauungsplans. Der in verschiedenen Medien geäußerte Vorwurf, die Verwaltung habe das Gebäude zweckentfremdet, greife nicht: Sofern das Holzhaus überhaupt irgendwann religiös genutzt wurde, habe es die jüdische Jugend des Orts in den 20er-Jahren für die »weltliche« Nutzung freigegeben und einen Klub darin eröffnet. Logisch: Auch das ist eine mündliche Überlieferung. Aber eine, der Dostanko offensichtlich Glauben schenkt. Und weil die Verwaltung anfangs gar nicht und anschließend nur widersprüchlich kommuniziert, muss sie sich jetzt auch gegen mancherlei Gerüchte wehren. Nichts sei dran an der Behauptung, die Verwaltung wolle einen Supermarkt auf dem frei gewordenen Grundstück in bester Zentrumslage bauen, beteuert Dostanko.
Leonid Lewin versucht die Wogen zu glätten. Der Präsident des »Verbands der weißrussischen jüdischen gesellschaftlichen Vereinigungen und Gemeinden« hat sich am 6. Mai mit Dostanko und weiteren Vertretern der Verwaltung in Ljuban getroffen. Jetzt ist er sicher, dass die Verwaltung zwar nicht bösartig gehandelt hat, wohl aber naiv bis moralisch fahrlässig. »Juristisch ist das Vorgehen unangreifbar«, meint Lewin, der selbst Architekt ist. Die Beamten hätten sich von Anfang an auf den Generalbebauungsplan zurückgezogen und die Verantwortung von sich geschoben. Trotz Nachsicht und Kooperationswillen hat Lewin klare Forderungen an die Verwaltung: Die Beamten sollten sich offiziell entschuldigen und die Verantwortlichen namentlich nennen. Außerdem fordert die jüdische Gemeinde die Wiederherstellung des abgerissenen Holzgebäudes – das nur pro forma, denn tatsächlich sei der Wiederaufbau nicht mehr möglich.
»Ljuban ist für die Juden in Weißrussland ein Präzedenzfall«, sagt Lewin. »Wir wollen ein für alle Mal sicherstellen, dass sich so etwas nicht wiederholt. Die Verwaltung darf kein historisch jüdisches Gebäude abreißen, ohne die Gemeinde darüber zu informieren«, sagt Lewin.
Die Verwaltung der Region Ljuban hat der jüdischen Gemeinde in Weißrussland mittlerweile angeboten, in einem zweiten Holzgebäude in direkter Nachbarschaft – laut den Beamten die tatsächliche Synagoge – eine Ausstellung über Feinstein und die Geschichte des Judentums in der Region einzurichten. Allerdings: Auch dieses Gebäude ist baufällig und muss saniert werden. Wegen des geringen Steueraufkommens kann die Region die Mittel dazu angeblich nicht aufbringen. Wenn keine In- vestoren gefunden werden, wird wohl auch dieses Gebäude nicht mehr lange stehen.