von Rabbiner Marc Wilson
Mein Keyboard weint sanft vor sich hin, meine Tränen tropfen auf die Tasten. Ich habe das Ableben eines zeitlosen Freundes zu beklagen. Das 2nd Avenue Deli, Ecke East 10th Street, hat dichtgemacht. An den treuen Stammkunden lag es nicht. Unvorstellbar viele Stunden haben sich die Gäste geduldig gequetscht in einen winzigen Raum vor dem Tresen. Erleichtert wurde ihre Wartezeit nur durch unvergleichliche Horsd´oeuvre, gehackter Leber, geschmiert auf ein Stück Roggenbrot. Kein fauler Kompromiß bei Geschmack oder Größe der Portionen war es, der dem Deli (eröffnet 1954) den Garaus machte.
Nein, Mißmanagement und Gier haben dem Kult-Imbiß den Todesstoß versetzt. Laut New York Times sollte die Miete um 9.000 US-Dollar im Monat erhöht werden – zuviel für Eigentümer Jack Lebewohl. Abe Lebewohl, Gründer und Schutzheiliger des Deli, hätte aus seinem Grabe die Katastrophe verhindern können. Aber dann stieß das Big Business Abe´s Ikone mörderisch zu Boden, nur um selbst zugrunde zu gehen. Gott der Herr wird jetzt mit Muschel-Graupen-Suppe überschwemmt, während die Seraphim singen: »Heilig! Heilig!«
Die meisten meiner Kollegen machen es sich sehr leicht, einen Abgesang auf das 2nd Avenue Deli zu schreiben. Sie schauen in die Speisekarte und suchen das passende Adjektiv zu jedem Gang. Das ist Leichenschändung. Was natürlich nicht heißen soll, Abe´s Matzeballsuppe, sein Strudel und seine Pastrami seien nicht göttlich gewesen. Aber das Angedenken des Deli sollte vor allem seiner Atmosphäre wegen in Ehren gehalten werden. Ich erinnere mich seit fünf Jahrzehnten – und andere dagegen bereits seit acht Jahrzehnten – an die Speisen des Deli, wie wir uns an die nährende Wärme der Muttermilch erinnern. Als Kaschrut unmodern wurde, blieb das Deli koscher.
Was uns bleibt, sind die Erinnerungen. Eine winzige Kellnerin, ihr lackiertes Haar aufgetürmt wie zu einem Bienenstock, bediente uns allerliebst – sie sprach dabei in Reimen. Kellner gossen Matzeballsuppe mit lauten Trompetenstößen in unsere Schüsseln, aber ansonsten blieben sie griesgrämig – auf diese einzigartige New Yorker Griesgram-Art. Einmal hörte ich, wie ein Kellner einen neubekehrten Kunden anbellte: »Wenn Sie nicht wissen, was Sie wollen, warum zur Hölle sind Sie dann hier?« Vor Jahren habe ich mir im Deli dermaßen den Bauch vollgeschlagen, daß man mich wegen eines akuten Pankreatitis-Anfalls ins Krankenhaus brachte. Ich wäre fast gestorben. O hochgelobter Abe, warum bist du nicht mehr unter uns, wenn wir dich am meisten brauchen? O Krönungsjuwel des amerikanischen Jerusalem – wo sollen wir dich wiederfinden?