von Olaf Glöckner
Ariel (20) hat Berlin in sein Herz geschlossen. Der gebürtige Usbeke ist schon etwas länger in der Hauptstadt: »Berlin ist bunt und multikulturell, hier begegnen sich verschiedenste Religionen, und jeder lebt seinen Glauben ganz offen. Ich selbst kann mit der Kippa durch die Straßen laufen, ohne dass mich jemand schief an-
sieht.« Unter den 15 jungen Männern, die das neu eingerichtete Tora-Kolleg von Chabad Lubawitsch Berlin seit Anfang September betreut, wirkt Ariel sehr abgeklärt.
Die anderen klingen nachdenklicher, vorsichtiger und dennoch neugierig und aufgeschlossen. Vadim (15) aus Osnabrück sieht im begonnenen Kolleg-Jahr eine »große Chance«. Baruch (19) aus Kassel ist für eine Probewoche hierher gekommen – und will sich erst danach entscheiden. Auch für die übrigen Jugendlichen – alle zwischen 14 und 20 Jahren alt – scheint es eine enorme Umstellung zu sein, aus mittelgroßen deutschen Städten in die Millionenmetropole gezogen zu sein. Sie teilen sich eine geräumige Gemeinschaftswohnung nahe dem Kurfürstendamm, besuchen morgens den Real- oder Gymnasialzweig der Jüdischen Oberschule, studieren am späten Nachmittag Tora, Talmud und Chassidismus im Chabad-Zentrum – und unternehmen auch sonst viel als Gruppe.
Die jungen Männer kommen aus Hannover, Kassel, Gießen, Osnabrück oder Saarbrücken. Sie sprechen neben der deutschen auch die russische Sprache, denn ihre Familien sind aus Osteuropa in die Bundesrepublik emigriert. Ob zu Hause schon Vorkenntnisse in Sachen Judentum vermittelt wurden, ist für die Initiatoren des Tora-Kollegs nicht das Entscheidende. »Wir wollen, dass die Jugendlichen in ih-
rer eigenen Entwicklung vorankommen und die Möglichkeiten erleben, die die jü-
dische Religion und Tradition ihnen dabei bietet. Wenn sie ein Stück davon in ihr Le-
ben integrieren oder sogar weitergeben, dann haben wir viel erreicht«, sagt Koordinator Gennadiy Palamarchuk (36), der selbst ursprünglich aus Odessa stammt. Auch der 18-jährige Stas kommt aus der Schwarzmeerstadt. »Meine Familie pendelt aber immer noch zwischen Berlin und Odessa. Am Wochenende sitzen wir wieder im Flugzeug«, erzählt er. Robert (14) wiederum ist zwar in Deutschland geboren, hat aber mit seiner Familie schon wechselweise in Israel, der Ukraine und in Hannover gelebt.
Die Teenager befinden sich in einer wichtigen Phase ihres Lebens – den elterlichen Fittichen im Prinzip entwachsen, gleichzeitig auf der Suche nach Herausforderungen, Idealen und eigenen Lebensentwürfen. Sie wollen Arzt, Designer, Rabbiner, Manager und Religionswissenschaft-
ler werden. Die Jugendlichen sind noch »am Sortieren«, wo sie geografisch, kulturell, mental eigentlich hingehören. Gennadiy Palamarchuk räumt ein, dass die ersten Wochen am Kolleg keine einfache Zeit waren. »Natürlich hat es nicht nur Sonnenschein und Harmonie gegeben, sondern auch Reibereien und Missverständnisse. Doch jetzt hat sich Zusammenhalt entwickelt, man kennt Stärken und Schwächen, akzeptiert und hilft sich.«
Beim Tora- und Talmudunterricht, den der israelische Rabbiner David Yampolski leitet, wird demnächst noch ein Lehrer aus dem ukrainischen Charkow hinzukommen. Dadurch wird es auch möglich sein, in Gruppen mit verschiedenen Vorkenntnissen zu arbeiten. Die Kette jüdischer Feiertage im September und Oktober hat den Kolleg-Besuchern zudem eine ideale Einstimmung auf gelebte Tradition gegeben. »Es war schon ein Erlebnis, an der Sukka im Garten mitbauen zu können«, erzählt Max, »und an Jom Kippur haben tatsächlich alle gefastet.«
Doch nicht nur für die Seele, auch für den Körper wird im Kolleg so einiges getan. Auf der modernen City-Sport-Anlage, die an das Chabad-Gelände in der Münsterschen Straße angrenzt, rangieren Fußball, Tennis und Badminton in der Be-
liebtheit ganz oben. An regnerischen Ta-
gen bleiben noch immer das Computer-Kabinett, Schachbretter oder auch die hauseigene Bibliothek. »Dort reizen mich aber weniger die Bücher, sondern das untergestellte Klavier«, frotzelt Konstantin (17), mittlerweile der ausgemachte Spaßvogel der Gruppe. Alle lachen und warten auf den nächsten Witz, aber ein klein wenig klingt das auch nach Heimweh.
Pünktlich zu den Berliner Herbstferien ist nun auch das Tora-Kolleg in eine zweiwöchige Pause eingetreten. Zeit genug für die Jugendlichen, die vielen neuen Eindrücke zu Hause zu verarbeiten und mit Eltern und Geschwistern zu besprechen. Nach der Rückkehr, so Gennadiy Palamarchuk, seien dann auch erste größere Exkursionen in die Hauptstadt und ins Berliner Umland geplant. »Die Jungen freuen sich darauf, und auch das wird ihren Horizont erweitern.«