von Benjamin Hammer
»Hawa nagila – lasst uns glücklich sein«, singt der Chor im lichtdurchfluteten ersten Stock des jüdischen Wohlfahrtszentrums. Die Synagogen-Gemeinde Köln hat zum Sommerfest in das Elternheim eingeladen und viele Menschen sind in die Kölner Ottostraße gekommen. Im Schalom-Chor der Kölner Synagogen-Gemeinde singen Deutsche und Zuwanderer aus Russland – auf Deutsch, Russisch, Jiddisch und Iwrith. Doch es gibt ein Problem: Von den Alteingesessenen der Gemeinde singt niemand im Chor. Die einzigen deutschen Sänger sind nicht jüdisch. »Von den deutschen alteingesessenen Juden der Gemeinde kommt da leider ein bisschen wenig«, sagt die Chorleiterin Ekaterina Margolia. Die 33-Jährige kam vor zehn Jahren von Moskau nach Köln.
Trotzdem ist die Stimmung locker. Überall wuseln Kinder herum, sitzen auf dem Schoß ihrer Eltern und Großeltern, drei Generationen sind hier vertreten. Als das jüdische Wohlfahrtszentrum in der Ottostraße 2003 eröffnet wurde, setzte man bewusst auf ein Konzept, das die älteste Generation mit der jüngsten verbindet. Neben dem Seniorenheim, das man hier aus Respekt »Elternheim« nennt, gibt es einen jüdischen Kindergarten und eine Grundschule.
Auf dem Programm steht nicht nur »Seniorentanz«, sondern auch »Kinderschminken«. Doch nicht nur heute gibt es ein Treffen von Jung und Alt im Wohlfahrtszentrum. »Der Kontakt zu den Kleinen ist für die Ältesten wichtig«, meint Dalia Rado, Leiterin des Elternheims. Slawa Lebededewa etwa. Die 80-Jährige schaut öfters mal im Kindergarten vorbei und spielt dort für die Kleinen Klavier.
Im Foyer sitzt die Mitbewohnerin von Slawa Lebededewa, Gedrietta Strelchenko. Die heute 92-Jährige kam vor zehn Jahren aus Rostov am Don nach Köln. Deutsch spricht sie nicht. »Zu deutschen Juden hat sie eher weniger Kontakt«, erzählt ihre Enkelin Valeria. Sie ist Mitte dreißig und spricht perfekt Deutsch. »Wir sind als große Familie nach Köln gekommen«, sagt Valeria. Doch die Familie sei in der ersten Zeit erst einmal unter sich geblieben.
Im Elternheim gibt es viele wie die 92-jährige Gedrietta Strelchenko. Die meisten sprechen kein Deutsch. »Sie sind einfach zu alt, um die Sprache zu lernen«, sagt Michael Rado vom Vorstand der Synagogen-Gemeinde. Während die Gemeinde bei jüngeren Zuwanderern auf intensive Sprachförderung setzt, lässt man den Älteren bewusst ihre russischsprachige Umgebung. Auch beim Pflegepersonal achtet das Heim darauf, dass es auf seine russischsprachigen Bewohner eingeht. Wer Russich spricht, wird bevorzugt eingestellt. Die älteren Zuwanderer sollen sich wohlfühlen.
Manchen Gemeindemitgliedern geht diese Rücksicht zu weit. »Ältere Juden aus Deutschland haben schon gar keine Lust mehr hier hinzugehen«, sagt eine etwa 50-jährige Alteingesessene. »Man kommt hier rein und überall läuft russisches Fernsehen.« Dabei werde den deutschen Juden oft vorgehalten, nicht genug für die Integration zu tun – das stimme aber nicht. »Unsere Angebote werden oft einfach nicht angenommen«, klagt die Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte.
Sie sitzt in einem Saal neben der kleinen Synagoge des Wohlfahrtszentrums. Die Veranstalter haben ein großes Buffet aufgebaut, es gibt koscheres Essen und Kölsch. Ein Tischnachbar, ebenfalls um die 50 Jahre alt, versucht zu erklären, was manche Alteingesessene irritiert. Nach dem Krieg seien viele von ihnen nach Deutschland gekommen, aus Polen zum Beispiel. »Die mussten sich durchschlagen, hatten keine Unterstützung.« Mit den Zuwanderern sei das anders. Heute hätten daher manche Gemeindemitglieder den Eindruck, dass die Zuwanderer »alles hinterhergeschoben kriegen«.
Dem Fest merkt man die Unstimmigkeit nicht an, es ist gut besucht. In der ersten Etage des Wohlfahrtszentrums gibt es Kaffee und Kuchen, im Erdgeschoss steht das Buffet, an den Tischen haben sich Gruppen gebildet. Gesprochen wird entweder Deutsch oder Russisch. Zwischen den beiden Sprachgruppen scheint es wenig Kontakt zu geben. »Das Hauptproblem ist die Sprache«, sagt Michael Rado. »Die Zuwanderer haben oft keinen Job und können das Deutsch aus den Sprachkursen nicht praktisch anwenden.« Sie fielen dann schnell wieder in ihre russischen Gruppen zurück.
Rado sitzt im Foyer des Wohlfahrtszentrums, der Chor singt. Das Elternheim grenzt direkt an den jüdischen Kindergarten. Nur eine Glastür trennt die beiden Bautrakte voneinander. Doch hinter der Glastür scheint alles anders. Etwa zehn Kinder sitzen hier und lassen sich schminken. Sie sprechen Deutsch, Russisch, Iwrith, alles durcheinander – und sie verstehen sich. »Ich habe deutsche und russische Freunde«, sagt die sechsjährige Amit.
»Im Kindergarten funktioniert das mit der Integration automatisch«, weiß Michael Rado. Für Zuwanderer gibt es speziellen Förderunterricht, die meisten lernen Deutsch schon nach kurzer Zeit. Dass sich die Kinder so schnell integrieren, begreift die Gemeinde auch als Chance für die älteren Generationen. Bis zu fünf Aufführungen mit Theater und Musik machen die Grundschüler pro Jahr – und die Eltern aus Deutschland und Russland treffen sich bei Aufführungen.
Wenn es nach Chorleiterin Ekaterina Margolia geht, dann ist das Zusammenwachsen nur eine Frage der Zeit. »Die Kinder integrieren sich gut«, sagt sie. Viele Angebote des Gemeinde seien erfolgreich. »In 15 Jahren wird die Situation schon viel besser sein als im Moment.«